Der magische Wald
Hufschlag war irgendwie noch beängstigender als die Wölfe, wirkte zielgerichtet und unerbittlich. Der Wald war ihm völlig fremd, seltsam und unbekannt, größer, als es in seiner Welt möglich war. Er war in den Anderen Ort geraten. Er war verloren. Ein Schluchzen stieg in ihm hoch und drohte ihm den Atem zu nehmen. Dann sah er Rose klar und deutlich vor einem undurchdringlichen Dorngebüsch stehen. Sie winkte ihn eilig heran. Er lachte fast vor Erleichterung. »Ich wußte, daß du kommen würdest«, stammelte er und taumelte auf sie zu. Aber es war nicht Rose. Er konnte sie nur kurz genau sehen, bevor sie in das Gebüsch sprang und ihn mit einer Geste aufforderte, ihr zu folgen, aber er war sicher, daß sie es nicht war. Dieses Mädchen war größer und schlanker, hatte dunklere Augen und trug ein weißes Hemd, das Arme und Hals unbedeckt ließ. Er drang in das Gebüsch ein und kämpfte sich hinter ihr her. Der Schädel verfing sich in Dornenranken. »Warte!« Hinter ihm heulten die Wölfe vor Wut und Enttäuschung. Er stieß ein irres Kichern aus und atmete keuchend ... »Wo bist du?« ... und fiel einen steilen Abhang hinunter, überschlug sich, umklammerte dabei den Schädel immer noch mit seiner müden Hand. Dann klatschte er zu seinem Schrecken in das kalte Flußwasser, tauchte unter und schlug wild um sich, um wieder an die Wasseroberfläche zu gelangen. Der Fluß war tief und eiskalt. Er schnappte nach Luft, schrie und versuchte, ans Ufer zu gelangen -dann hielt er inne. Der Schädel war irgendwo auf dem Grund des Flusses.
Er tauchte. Das Schwimmen hatte er sich nach Roses Verschwinden selbst beigebracht. Seine Finger fuhren durch Schlamm, wendeten Steine um, berührten einen vorbeischießenden Fisch. Dann spürte er den harten Umriß des Schädels. Er tauchte wieder nach auf und rang nach Atem. Seine Schuhe zogen ihn nach unten. Er erreichte das jenseitige Ufer, zog sich wie ein alter, alter Mann aus dem Wasser und lag dann wie hingestreckt im Gras und wartete darauf, daß sein rasendes Herz sich beruhigte. »Mein Gott«, krächzte er. Er war auf der Ostseite des kleinen Flusses, und zehn Meter weiter gähnte der Brückenbogen wie ein dunkles, leeres Tor.
KAPITEL SECHS
»Um Himmels willen, Michael! Was in aller Welt ist das? Du hast mich zu Tode erschreckt!« Er stöhnte, drehte sich im Bett auf die andere Seiteund öffnetemühsamdie Augen. Seine Großmutter rüttelte ihn an der Schulter. »Wo hast du das her? Du kannst so etwas nicht im Haus aufbewahren!« Schlaftrunken sagte er die Wahrheit. »Hab' es unten am Fluß gefunden. Es ist nur ein Schädel.« »Ein Schädel! Und wofür brauchst du einen Schädel im Haus, oben auf dem Kleiderschrank? Ich hoffe, du hast nicht den Schädel vom alten Dämon ausgegraben, das würde deinen Großvater nicht gerade erfreuen. Grabschändung ist das, sonst nichts.«
»Er ist nicht von Dämon, es ist ein anderer Schädel. Von einem anderen Hund.« Er gähnte, obwohl er jetzt hellwach war. Es war ein kühler regnerischer Morgen. »Nun, du beeilst dich jetzt besser. Dein Großvater sitzt schon beim Frühstück, und Mullan spannt den großen Wagen an. Wir wollen nicht wegen einer Schlafmütze zu spät kommen.« Sie ging zur Tür. »Ein Schädel, also wirklich.« Michael stand auf. Sein ganzer Körper schmerzte, und er fühlte sich schmutzig. Der schwarze Schädel in der Ecke grinste ihn an. Mein Gott, er war so groß! Sonntagmorgen. Kirchgang. Er stöhnte noch einmal. Dichter Regen fiel, als sie in die Stadt fuhren, und die Räder des Wagens ließen das Wasser spritzen. Sean murmelte etwas davon, daß sie sich ein Auto kaufen und endlich ins zwanzigste Jahrhundert fahren sollten, aber Michaels Großeltern schien der Regen nichts auszumachen. In ihrenÖlhäuten sahen sie mehr wie Seeleute als wie Kirchgänger aus. Michael und Tante Rachel saßen verdrossen im hinteren Teil des Wagens. Das Wasser lief ihnen in die Augen. Michael spürte, wie der Kragen seines guten Hemdes im Regen immer kälter wurde. Rachel ignorierte ihn. Sie hielt die Krempe ihres Hutes mit ihrer von der Arbeit geröteten Hand fest. Der Schwarze Reiter stand auf dem Feld direkt an der Straße, dicht an der Hecke. Michael hätte die Nüstern seines Pferdes berühren können, als die Kutsche an ihm vorbeiratterte. Er schien ihn als einziger bemerkt zu haben. Der Regen hatte ihn noch schwärzer gemacht, und das Fell seines Pferdes glänzte vor Nässe. Seine Kleidung und sein Umhang hingen wie eine
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