Der Makedonier
ich bin mir auch gar nicht so sicher, ob du ihn vermeiden willst.«
Er sah in die blaugrauen Augen seines Neffen, doch wenn er darin nach einer Bestätigung suchte, fand er keine. Er erkannte nur, daß Philipps Herz, wie das seiner Mutter, seine Geheimnisse gut verbergen konnte.
»Und wenn du mit Pleuratos zusammenstößt«, fuhr er fort, »wird es eine große Schlacht geben, vielleicht die größte seit Troja. Aber genau in dieser Unausweichlichkeit liegt meine Hoffnung auf ein Überleben – das heißt, wenn die Schlacht vor und nicht nach meinem Untergang stattfindet. Es ist nur eine schwache Hoffnung, denn ich halte es für wahrscheinlich, daß du unterliegen wirst, aber es ist meine letzte Hoffnung. Pleuratos hat mir nur den Tod zu bieten oder das, was für einen König noch schlimmer ist als der Tod. Was hast du mir zu bieten, Philipp?«
Einen Augenblick lang wandte Philipp den Blick ab, doch dann sah er Menelaos so durchdringend an, daß es fast schmerzte.
»Unterstützung, Onkel. Solche Unterstützung, wie iches für meine Pflicht halte, sie einem Verwandten anzubieten – einem Verwandten und Untertan.«
Menelaos hüstelte überrascht, als könnte er nicht glauben, daß die Niederlage so schnell kommen konnte, so ohne jede Vorwarnung. Philipp würde nicht mit sich reden lassen, das war klar. Er würde nur die Bedingungen verkünden, zu denen er eine Unterwerfung annehmen würde, Bedingungen, die eine Ablehnung nicht zuließen.
Vier Generationen lang hatten die Bakchiaden als Herren von Lynkestis und ihres eigenen Schicksals regiert und dabei das uralte Anrecht der Argeaden auf den Thron mißachtet. Als uneingeschränkte Herrscher hatten sie Kriege geführt und Frieden geschlossen und die Könige in Pella als Ebenbürtige behandelt. Aber jetzt, so schien es, war es damit zu Ende, und um es zu beenden, genügte ein Wort des Knaben, den Menelaos einmal beim Wildern seines Ebers ertappt hatte.
»Also gut«, sagte er mit einem leichten Achselzucken. »Wie es aussieht, Philipp, habe ich mein Schicksal mit dem deinen verbunden.«
Bevor Menelaos sich am nächsten Morgen auf den Rückweg nach Lynkestis machte, nahm er in aller Form von Philipp Abschied und erkannte ihn als seinen Herrn und als König aller Makedonier an. Auch die Männer seiner Eskorte mußten Philipp den Treueid leisten. Danach ließ er kehrtmachen und ritt davon, auf die schneebedeckten Berge zu, die seine Sicherheit waren, zumindest solange das kalte Wetter anhielt.
»Glaubst du, daß er sein Wort halten wird?« fragte Korous, während er und Philipp den Lynkestis nachsahen, die langsam im wirbelnden Schnee verschwanden.
»Ich glaube, daß er schon in diesem Augenblick darüber nachsinnt, wie er uns an die Illyrer verraten kann«, antwortete Philipp, ohne sich umzudrehen. »Aber ich glaube auch, er weiß, daß Pleuratos jedes Versprechen bricht.«
»Dann können wir seiner sicher sein.«
»Nein. Er weiß, daß wir im kommenden Jahr gegen die Illyrer kämpfen werden, aber vermutlich hofft er daß er dabei neutral bleiben kann, um es dann mit einem Sieger zu tun zu haben, der zu erschöpft ist, um eine Gefahr für ihn darzustellen. Genau aus diesem Grund werden wir, wenn der Frühling kommt, nach Norden marschieren, bevor Pleuratos Gelegenheit hat, nach Süden vorzurücken. Wenn mein Onkel uns an seiner Türschwelle sieht und begreift, daß wir ihm keinen dritten Weg lassen und er sich nur entscheiden kann, ob er unser Verbündeter oder unser Feind sein will, dann wird sogar er erkennen, daß er keine Gelegenheit zum Verrat mehr hat. Dann erst können wir seiner sicher sein.«
»Aber werden wir bis zum Frühling bereit sein, den Illyrern entgegenzutreten?«
Philipp sah über die Schulter und lächelte dünn. »Haben wir denn eine andere Wahl?«
Von der Mauer der Festung ihres Urgroßvaters aus beobachtete Audata die Reiterübungen in dem langen, sanft gewellten Tal unter ihr. Männer und Pferde waren nicht mehr als schwarze Punkte im Schnee, der zum Teil so tief war, daß die Pferde springen mußten, um vorwärtszukommen.
Der Winter hatte eben erst begonnen, und Audata hatte sich noch nicht an die Kälte gewöhnt. Sie trug einen Schaffellumhang mit dem Fell nach innen, aber sie stand an einer hohen, ungeschützten Stelle, an der beständig ein feuchtkalter Wind blies.
Die Reiterübungen ergaben für sie keinen Sinn. Weder Aufbau noch Absicht konnte sie erkennen, lediglich eine Reihe hektischer, willkürlicher Bewegungen.
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