Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci
das störte ihn nicht, solange sein Körper zur Ruhe kam. Die Wolken schienen so tief über ihn hinwegzugleiten, dass er meinte, er könne sie berühren. Und der Himmel war, wie er nicht zum ersten Mal bemerkte, hier in den Bergen merklich heller als von tiefer gelegenen Orten aus betrachtet. Als werde das Himmelsblau von Einflüssen hervorgerufen, die nichts mit dem Himmel selbst zu tun hatten. So wie das Meer und große Seen ihre jeweilige Farbe dem Azur des Himmels zu verdanken hatten oder dem Grau der Wolken…
Leonardo versuchte, völlig zu entspannen und seinen Gedanken Einhalt zu gebieten – was ihm nur selten gelang –, und für einen kurzen Moment war ihm, als werde er zusammen mit dem Berg, auf dessen Hang er ruhte, hochgehoben und segle auf dem Wind davon.
Die Sehnsucht, wie ein Vogel fliegen und aus großer Höhe auf die Erde hinabschauen zu können, meldete sich zurück, drängender denn je. Wenn er das könnte, würde er vielleicht auch einen Überblick darüber gewinnen, wie die Dinge auf der Erde ineinandergriffen, damit die Natur Bestand hatte…
Seine Gedanken wanderten zu dem spanischen Kapitän – oder war er Italiener? – namens Kolumbus, über den allerlei wilde Gerüchte kursierten. Es hieß, er sei mit drei Schiffen nach Westen in See gestochen, um einen neuen Seeweg nach Indien zu suchen. Ein tollkühnes Unterfangen, so die allgemeine Meinung. Keiner würde die drei Schiffe je wiedersehen, sie segelten wahrscheinlich geradewegs in die Hölle. Oder würden von gigantischen Meeresungeheuern verschlungen werden.
Oder sie entdecken bisher unbekanntes Land, dachte Leonardo. So, wie man ja auch schon die Azoren entdeckt hat. Wahrscheinlich gab es in der Weite des Ozeans unzählige kleine und große Inseln, die vielleicht von ganz fremdartigen Menschen und Tieren bewohnt wurden. Denn die riesige See konnte doch nicht allein aus Wasser bestehen. Das erschiene so sinnlos…
Leonardo rappelte sich hoch, reckte die schmerzenden Glieder und ging gemächlich zu seinem Pferd zurück, das ein ganzes Stück tiefer auf einer Alm stand, wo es sichtlich zufrieden von dem saftigen Gras fraß.
Pferde sind doch wirklich prachtvolle Tiere, dachte Leonardo. Sie sind stark, elegant, edel und schnell wie der Wind. Ihr einziges Problem ist, dass sie hin und wieder einen Reiter auf ihrem Rücken dulden müssen. Das hatte er nie recht verstanden. Warum ließ ein Pferd, das mindestens so stark war wie ein halbes Dutzend Männer, es zu, dass man ihm einen Sattel auflegte, eine schmerzende Kandare ins Maul schob und sich dann auf seinen Rücken setzte, um es an Orte zu lenken, an die es überhaupt nicht wollte?
Ich stelle mir zu viele Fragen, sagte er sich wieder einmal, während er aufsaß. Und je länger ich allein bin, desto schlimmer wird es. Vielleicht kehrte er besser nach Hause zurück und tat das, was man von ihm erwartete. Das war wahrscheinlich der einzige Weg, ein bisschen Ordnung in das Chaos seines Geistes zu bringen.
18
Leonardo legte letzte Hand an seine Felsgrottenmadonna an, die nun, da die Bruderschaft keine Anstalten gemacht hatte, auf seine Forderungen einzugehen, tatsächlich von Ludovico Sforza gekauft worden war. Das Bild sollte ein Hochzeitsgeschenk für König Maximilian von Habsburg sein, der sich mit Sforzas Nichte Bianca Maria vermählen würde. Die Vorstellung, dass das Bild Italien verlassen sollte, um die Residenz eines Königs zu schmücken, gefiel Leonardo.
Wie geplant, trug er zur Auffrischung der Farben eine neue Schicht Firnis auf die inzwischen schon einige Jahre alte Tafel auf. Während er mit dem Pinsel sorgfältig über Magdalenas Konturen fuhr, fragte er sich, was sie und Adda wohl sagen würden, wenn sie wüssten, dass ihr Bild bald die Räume eines königlichen Schlosses schmücken würde. Aber nein, das brauchen sie nicht zu wissen, entschied er. Und es war vielleicht auch besser, wenn niemand wusste, wer die Frau und das Mädchen und die beiden kleinen Jungen auf dem Bild waren. Sollten doch alle denken, der Maler habe nur einer Vision Gestalt verliehen.
Als er fertig war, trat Leonardo wie schon so oft ein paar Schritte zurück, um das Bild aus der Distanz zu betrachten.
Eine fromme, fast heilige Szene vor dem Hintergrund schroffer Felsen. Einmal mehr wurde ihm bewusst, dass dies nicht irgendeine Szene war. Als er seinerzeit die Grotte betreten hatte, musste er etwas wiedererkannt haben, was er in der Schule gelernt hatte, etwas Biblisches. Die Flucht nach
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