Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci
Ägypten, die Heilige Familie, die auf ihrer anstrengenden Reise eine Rast in einer zufällig gefundenen Grotte einlegt.
Jetzt endlich sah er, woran es dem Bild die ganze Zeit gemangelt hatte. Die Darstellung musste auf eine höhere Ebene gehoben werden, die Figuren mussten etwas verkörpern, was über die normale menschliche Existenz auf Erden erhaben war…
Ein schweres Dröhnen, das den Boden unter seinen Füßen fühlbar erzittern ließ, riss ihn aus seinen Gedanken. Leonardo trat ans Fenster.
In der Halle herrschte Hochbetrieb. Ein Teil der Leute hatte damit begonnen, die gewaltige Schmelzgrube für den späteren Bronzeguss des Sforza-Pferdes auszuschachten. Und währenddessen waren Zimmerleute und Gehilfen dabei, mit Hilfe eines komplizierten Systems von Flaschenzügen, die an den robusten Deckenbalken verankert waren, den Rumpf des riesigen tönernen Pferdes aufzurichten. Offenbar verlief nicht alles wunschgemäß. Es wurde gerufen und geschrien, und die Gehilfen sprangen an die herabhängenden Seile, um Kontrolle über die Last zu bekommen und sie an den richtigen Ort zu lenken.
Leonardo atmete erleichtert aus, als die Aktion geglückt war, und bemerkte erst jetzt, wie angespannt er selbst gewesen war. Er versuchte nicht daran zu denken, was sich hier erst abspielen würde, wenn sie den Abdruck vom Tonmodell machten und es ans Gießen ging.
Er registrierte, dass seine fast vollendete Flugmaschine bei der Grube bald im Weg stehen würde. Es wurde höchste Zeit, sie aufs Dach zu verfrachten.
Sein Blick fiel auf Ambrogio de Predis, der sich ein wenig abseits mit einem Leonardo unbekannten jungen Mann unterhielt. Ambrogio gestikulierte, als erläutere er dem andächtig lauschenden Burschen das eine und andere zu den Arbeiten.
Leonardo runzelte die Stirn, als er das sah. Er hielt die Dinge lieber geheim und sah es gar nicht gern, dass Ambrogio dem erstbesten Fremden, der hier gar nichts zu suchen hatte, ausführliche Erläuterungen gab. Aber vielleicht war der Mann ja wieder ein Abgesandter von Il Moro . Der schickte für Leonardos Geschmack viel zu oft einen »Inspizienten«, wie Sforza es nannte. Hinauswerfen konnte man diese Störenfriede nicht so ohne weiteres, denn sie mussten die Materialbestellungen absegnen, damit Il Moro diese auch bezahlte. Da Ambrogio der Diplomatischere von ihnen beiden war und es besser verstand, die Leute in ihrem Sinne zu beeinflussen, ließ Leonardo ihn meistens gewähren.
Ambrogio, der schon immer ein bedächtiger Mensch gewesen war, war seit dem Tod seines Lieblingsbruders noch stiller geworden. Der Arzt hatte Evangelista zu gegebenem Zeitpunkt versprochen, dass es binnen einer Woche endgültig vorbei sein würde mit den Schmerzen und der Qual, doch dann hatte es noch fast ein ganzes Jahr gedauert. Leonardos Vorbehalte gegenüber Ärzten waren damit wieder einmal bestätigt worden.
Sein Blick wanderte erneut zu dem jungen Mann neben Ambrogio. Irgendwie kam ihm der Bursche nicht ganz unbekannt vor, so, als hätte er ihn schon mehrmals flüchtig gesehen. Diese charakteristische Haltung, diese Art, sich zu bewegen, das lange Haar: Das war ja ganz er selbst, wie er damals ausgesehen hatte, als er als frischgebackener Meister bei Verrocchio arbeitete!
Just in diesem Moment schaute der junge Mann in seine Richtung, und ihre Blicke trafen sich. Gleich darauf wandte sich der andere wieder den Arbeiten vor ihm zu.
Er hat mich gar nicht richtig sehen können, sagte sich Leonardo. Hier im Büro ist es dunkler als in der Halle, und zudem spiegelt das Glas. Aber er hatte nach diesem kurzen Blickwechsel das sonderbare Gefühl, seine eigene Vergangenheit vor Augen gehabt zu haben.
Irritiert trat er wieder an die Staffelei mit der Felsgrottenmadonna, doch es gelang ihm nicht, an seine Überlegungen dazu anzuknüpfen. Er marschierte in die Halle hinaus.
Ambrogio stand jetzt allein da und sah mit in die Seiten gestützten Händen den Arbeiten zu. Der junge Mann war nirgendwo mehr zu entdecken. »Ein junger Maler und Bildhauer«, erklärte Ambrogio auf Leonardos Nachfrage, wer denn der Knabe gewesen sei. »Er hatte von dem Pferd gehört und wollte es sich gerne einmal ansehen.«
»Kanntest du ihn denn?«
Ambrogio schüttelte langsam den Kopf. »Ich habe noch nie von ihm gehört. Aber er kommt aus Florenz und hat mich ein wenig an dich erinnert«, sagte er und sah Leonardo an. »Sein Name ist Michelangelo Buonarroti…«
»Wenn du mich fragst, sollten wir das Pferd mit dem Kopf nach
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