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Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci

Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci

Titel: Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Vermeulen
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stand im schwindenden Tageslicht im Innenhof von Albertis Anwesen und starrte mit gemischten Gefühlen auf die Bronzestatue, die hier inmitten neu gepflanzter weißer Rosenbüsche prangte. Alle fanden, dass das Kunstwerk große Ähnlichkeit mit ihm hatte – bis auf ihn selbst. Er war Linkshänder, aber der David hielt sein Schwert in der rechten Hand. Und er war auch nicht so schlank wie der Bronzejüngling. Nur die Haare stimmten seinem Empfinden nach ganz mit seinen eigenen überein, üppige Locken, die den Kopf umhüllten wie eine Wolke. Vor dem abgehackten bärtigen Kopf des Riesen, der zu Davids Füßen lag, grauste ihm, obwohl er ganz und gar Verrocchios Phantasie entsprungen war…
    Ratternd nahte ein Pferdegespann, das direkt hinter Leonardo anhielt. Er schaute erst auf, als er die Stimme seines Vaters erkannte: »Was machst du denn hier?«
    Ser Piero saß mit Francesca auf dem Bock. Mit leichtem Missfallen blickte er auf Leonardo herab.
    »Herr Alberti hat mich eingeladen«, antwortete er, und es klang ungewollt rechtfertigend.
    Francesca fragte erstaunt: »In diesen Kleidern?«
    »Sie sind sauber, und ich hatte nichts Besseres zur Hand.«
    Ser Piero sagte: »Du hättest nach Hause kommen und mit uns herfahren können. Jetzt läufst du herum wie ein Landstreicher.«
    Leonardo dachte an das Naserümpfen des Dieners am Eingang. Der war höchst überrascht gewesen, dass sein Name tatsächlich auf der Gästeliste stand.
    Francesca betrachtete den David. Dann wanderte ihr Blick verwundert zu Leonardo. »Sehe ich es falsch, oder hat die Figur wirklich Ähnlichkeit mit dir?«
    »Ich habe dafür Modell gestanden.« Leonardo verspürte leisen Stolz, als er das sagte.
    »Ach, daher die Einladung«, sagte Ser Piero. »Wenn du dich nicht zum Gespött der hochwohlgeborenen Gesellschaft dort drinnen machen willst, gebe ich dir den dringenden Rat, nach Hause zu gehen und dir etwas Anständiges anzuziehen.«
    Wenn ich gehe, komme ich nicht mehr wieder, dachte Leonardo. Er hatte große Hemmungen überwinden müssen, um überhaupt herzukommen. Ein zweites Mal würde er das wohl nicht schaffen. Ohnehin würde er nur in irgendeiner Ecke stehen und den Festgästen zuschauen. Er hätte die Einladung gar nicht annehmen sollen, das wurde ihm jetzt klar. Aber Verrocchio hatte ihn dazu ermuntert. Weil es für einen angehenden Künstler wichtig sei, einflussreiche Leute kennenzulernen.
    Leonardo fasste einen Beschluss. »Ich gehe wieder in meine Werkstatt«, sagte er und dachte für sich: Damit ich euch keine Schande mache. Denn das war wohl ihre größte Befürchtung.
    Ser Piero hob seine Reitpeitsche und lenkte das Pferd in eine Ecke des Innenhofs, wo schon die Gespanne der anderen Gäste der Aufsicht einiger Stalljungen übergeben worden waren.
    Leonardo machte kehrt und lief zum Ausgang.
    Auf halbem Wege dorthin hörte er hinter sich eine bekannte Stimme: »He, Leonardo da Vinci, wo gehst du denn hin?« Alberti war aus dem Haus getreten, einen Römer Wein in der Hand. »Wolltest du uns etwa im Stich lassen?«
    »Es tut mir leid, Herr«, sagte Leonardo, der sich umgewandt hatte, »aber mein Vater wies mich gerade zu Recht darauf hin, dass ich nicht die passende Kleidung für einen Anlass wie diesen trage.«
    »Unsinn, das ist die Ansicht eines langweiligen Notars. Ein Künstler braucht sich um solche lästigen Gepflogenheiten nicht zu scheren. Von mir aus hättest du auch im Adamskostüm erscheinen können.« Er lachte. »Und das hätte vielleicht manch einem gefallen.« Er machte eine einladende Gebärde. »Komm herein, es gibt da einige, die das schönste männliche Modell von Florenz gerne kennenlernen möchten.« Als Leonardo zögernd kehrtmachte, reichte Alberti ihm seinen Römer. »Nimm schon mal einen kräftigen Schluck, nichts hilft so gut gegen Hemmungen.«
    »Herzlichen Glückwunsch zu Ihrem sechzigsten Geburtstag, Herr«, sagte Leonardo. Er versuchte auszumachen, wo sein Vater war, doch der schien sich in Luft aufgelöst zu haben.
    »Ich hasse diese Zahl, aber ich bin nun schon dreimal neunundfünzig geworden, da musste ich jetzt wohl oder übel Farbe bekennen.« Alberti schlang vertraulich einen Arm um Leonardos Schultern und lotste ihn ins Haus.
    Im Empfangssaal sorgten die mindestens hundert Gäste für eine solche Geräuschkulisse, dass man schreien musste, um sich überhaupt verständigen zu können. Leonardo bekam sogleich einen vollen Römer in die Hand gedrückt, während ihm der leere abgenommen

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