Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci
sagst…«
»Manchmal bedarf es eines gewissen Abstands, um die Schönheit der Dinge einschätzen zu können«, sagte Alberti mit unüberhörbarer Genugtuung.
Verrocchio nickte. »Ein Modell im Haus zu haben ist natürlich praktisch.« Er drehte Leonardo den Rücken zu, als werde er nicht länger gebraucht. »Aber du wirst dich noch gedulden müssen, Leon. Ich habe zurzeit außerordentlich viel zu tun, wie du weißt. Und da du wohl nicht akzeptieren wirst, dass ich die Bronze von einem Mitarbeiter ausführen lasse…«
Alberti hob die Hand. »Eine Frage von Prioritäten, würde ich meinen. Was gibt dem Klerus den Vorrang vor mir?«
»Der Umstand, dass er besser bezahlt«, antwortete Verrocchio obenhin.
Er zog den anderen mit in sein Büro im hintersten Winkel der Werkstatt, wo sie die Tür hinter sich schlossen.
»Leon Battista Alberti ist eine sehr hochrangige Persönlichkeit«, erklärte Morano, als Leonardo ihn fragend ansah. Er sprach mit gedämpfter Stimme, obwohl der Betreffende ihn unmöglich hören konnte. »Schriftsteller, Städteplaner, Architekt, Bühnenbildner, Musiker, Kunsttheoretiker, Mann der Wissenschaft – er ist zu vielseitig, als dass man alle seine Qualitäten aufzählen könnte. Darüber hinaus ist er Athlet und ein hervorragender Reiter, der schon etliche Preise gewonnen hat. Trotz seines Alters kann er aus dem Stand über einen erwachsenen Mann hinwegspringen, ohne ihn zu berühren.«
»Hast du das schon einmal gesehen?«
»Jeder weiß, dass er es kann. Du solltest dich geehrt fühlen, dass er Interesse an dir gezeigt hat.«
Leonardo zog eine Grimasse. »Nicht an mir, sondern an meinen Gesichtszügen.«
»Einerlei, es ist schon eine Ehre, wenn er dich überhaupt wahrnimmt.«
»Der hat einfach eine Schwäche für junge Schnösel, die dumm aus der Wäsche gucken«, sagte Vannucci, der unbemerkt mitgehört hatte. Unwirsch warf er Palette und Malstock auf den langen, mit allem möglichen Krimskrams übersäten Tisch in der Mitte des Raums und lockerte demonstrativ die Finger seiner rechten Hand. Er malte gerade an einer detailreichen Stadtansicht, die sehr aufwendig war. »Ich bezweifle, dass sein Interesse rein ästhetischer Natur ist«, fügte er hinzu und spie verächtlich auf den Boden.
»Vannucci…«, Leonardo holte tief Luft, »darf ich fragen, was ich dir getan habe, dass du mich so…«
»Nein, das darfst du nicht!«, herrschte der andere ihn an. »Mund halten und tun, was man dir sagt, das ist deine einzige Aufgabe!«
Giovanni Racanato, ein schon etwas reiferer Mitarbeiter, der so etwas wie Verrocchios Vertrauter war, klopfte Leonardo aufmunternd auf den Oberarm. »Komm, wir bringen dir jetzt bei, wie man Farbe macht«, sagte er. »Geh schon ins Lager.« Er schob Leonardo an, als schicke er ein Kind auf den Weg.
»Leonardos Frage war durchaus berechtigt«, sagte er anschließend zu Vannucci. »Was hast du gegen ihn?«
»Was ich gegen alle ungeschulten Bauernlümmel habe. Sie sind es nicht wert, dass man sie durchfüttert. Und was mischst du dich überhaupt ein?«
»Verrocchio hat mich damit beauftragt, Leonardo weiter anzuleiten.« Racanato schaute kurz zu Marco Morano, der ein ungläubiges Gesicht machte. »Ich hoffe, du hast nichts dagegen?«
Morano wandte sich ab, ohne zu antworten.
»Ich habe einige von Leonardos Zeichnungen gesehen«, sagte Racanato zu Vannucci. »Er hat unverkennbar Talent.«
Vannucci schnaubte. »Talent ist etwas, was man geschenkt bekommt, das ist kein persönliches Verdienst. Wissen und Können, darauf kommt es an.«
»Und daran fehlt es dir ja nicht.«
Vannucci sah ihn argwöhnisch an. »Ist das zweideutig gemeint?«
»Das überlasse ich dir«, antwortete Racanato und begab sich ins Lager.
Leonardo hatte schon damit angefangen, Lasurstein zu zerreiben, wie er es bereits gelernt hatte.
»Geh sparsam damit um«, ermahnte ihn Racanato. »Lapislazuli ist schrecklich teuer. Meister Verrocchio dreht dir den Hals um, wenn du ihn vergeudest.« Er setzte sich neben Leonardo an die Werkbank. »Wir werden zu den Mönchen gehen müssen, denn wir haben fast kein Azurit mehr. Wie sieht es mit den anderen Pigmenten aus?« Er schüttelte prüfend einige der verschmierten Holzdosen.
»Ich kann gern Material holen gehen.«
»Ja, das glaube ich. Aber auf der Straße lernst du nicht malen, Leonardo.«
»Hier auch nicht«, entgegnete Leonardo aufmüpfig.
»Geduld ist nicht deine stärkste Seite, was? Du hattest ja wohl auch in der Schule nicht die
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