Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci
Leiche freilegte, ihn dann herauszog und ihn dehnte und wieder losließ, um seine Elastizität zu demonstrieren.
»Das ist wichtig«, sagte der Meister. » Sehr wichtig. Muskeln sind unter der Haut sichtbar, sie verraten Spannung, ihr Tonus verleiht dem Körper Ausdruck. Der Künstler muss genau wissen, wo und wie sie verlaufen, wo sie befestigt sind und was sie können.« Er warf den herausgetrennten Muskel einem der Schüler zu, der ihn auffing und sogleich erschrocken wieder fallen ließ. Danach setzte er sein Messer am rechten Oberarm der Leiche an. »Wir werden jetzt sehen, wie der Bizeps…«, er hielt sichtlich verärgert inne, als schon wieder ein Schüler hinausrannte. »Könnten die übrigen Schlappschwänze jetzt bitte auch gleich gehen? Dann kann ich mit den anderen ungestört weiterarbeiten.«
Leonardo fragte: »Verzeihung, Meister, aber könnten Sie mir zeigen, wie der Ellbogen arbeitet?«
Vallerna sah ihn einige Sekunden lang mit hochgezogenen Brauen an. »Leonardo da Vinci, wenn ich mich nicht irre?« Er reichte ihm sein verschmiertes Messer. »Mach’s selbst, daraus lernst du vielleicht mehr.«
Leonardo nahm das Messer, das so glitschig war, dass es ihm fast aus der Hand rutschte. Alles und jeden um sich herum vergessend, streckte er den rechten Arm der Leiche auf dem Tisch aus und begann den Ellbogen freizulegen. Er tat das langsam und vorsichtig, um das Gewebe möglichst wenig zu beschädigen. Der Mann war schon mehrere Tage tot, so dass fast kein Blut floss, sondern nur ein wenig gelbliche Flüssigkeit aus den Schnitten sickerte.
Vallerna fragte: »Warum der Ellbogen?«
Leonardo wischte sich ungeduldig mit dem Handrücken die Schweißtropfen ab, die auf seiner Oberlippe perlten. »Der Ellbogen verleiht einem nackten Arm Ausdruck, wie der Nabel dem Bauch und die Muskeln dem Hals. Ohne Ellbogen wäre der Arm ein lebloser Fortsatz, ein nichtssagendes Ding.«
Vallerna nickte. »Ich beginne zu verstehen, warum Meister Verrocchio sich so lobend über dich äußert.«
»Tut er das?«, fragte Leonardo mit leichter Verwunderung. Ihm gegenüber geizte Verrocchio eher mit Komplimenten.
Statt zu antworten, wandte sich Vallerna an die anderen noch verbliebenen Schüler. Er deutete auf die teilweise aufgeschnittene Leiche. »Es wird Zeit, ein paar Zeichnungen zu machen, würde ich meinen.«
Als Leonardo nach der Anatomiestunde wieder draußen in der Sonne stand, war ihm nicht danach, gleich in die Werkstatt zu gehen. Lieber wollte er sich erst den Geruch des Todes aus Haar und Kleidern wehen lassen. Er lief automatisch Richtung Arno.
Auf den Straßen war es nach den Tumulten vom vorigen Tag wieder ruhig. Die Stadtwache war Lorenzos Reitern zu Hilfe gekommen und hatte die Aufwiegler auseinandergetrieben, um die Ordnung wiederherzustellen. Das Turnier war weitergegangen, als hätten Teilnehmer und Publikum gar nicht mitbekommen, was sich außerhalb von Turnierplatz und Tribünen abgespielt hatte.
Vom Flussufer aus starrte Leonardo auf das gemächlich vorüberströmende Wasser. Wasser hatte von jeher eine beruhigende Wirkung auf ihn. Als kleiner Junge hatte er oft zwischen Weiden und Schilf am Ufer des Vincio gesessen und aufs Wasser geschaut. Wenn man sich lange genug still verhielt, konnte man Barsche sehen, die dicht unter die Oberfläche kamen. Aber ein Fingerschnippen genügte, und sie waren wie der Blitz wieder verschwunden.
Genauso wie ein Fingerschnippen der Natur ausreicht, um das friedliche Gewässer in einen reißenden Strom zu verwandeln, dachte Leonardo. Das geschah hier im Herbst des Öfteren, wenn im Apennin im Osten überreichliche Niederschläge fielen. Die Stelle, an der er jetzt stand, wurde dann schon einmal vollständig überschwemmt. Im Sommer wiederum fiel der Fluss mitunter auf weiten Uferabschnitten völlig trocken. Aber jetzt war Frühling, und die Natur verwandte ihre Kräfte auf Wachstum und Blüte und die Anregung der Fruchtbarkeit bei allem, was lebte.
Auf der gegenüberliegenden Seite badeten einige Jungen. Das war ungewöhnlich, denn die meisten gingen lieber ein gutes Stück weiter stromaufwärts, oberhalb von den städtischen Abwasserkanälen, die ihren stinkenden Brei im Fluss abluden. Offenbar waren nicht alle so zimperlich.
Die Kinder schrien und lachten und jagten einander johlend im Wasser hinterher. So etwas hatte er selbst nie gemacht. Er hatte sich bei wilden und lauten Spielen immer abseitsgehalten. Als wäre ich nie ein richtiges Kind gewesen, dachte er
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