Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci
ausgesprochen werden darf.«
»Es fällt mir unendlich schwer, an einen Gott zu glauben, der so viel Elend zulässt. Warum tut er das? Wozu sollte er die Menschheit denn eigentlich geschaffen haben? Und den Himmel und die Hölle? Zum Zeitvertreib? Hätte er sich in seiner Allmacht denn nicht eine niveauvollere Unterhaltung einfallen lassen können? Und überhaupt, ein vollkommenes Wesen braucht doch wohl keine Unterhaltung!«
»Worauf unweigerlich die Frage folgt: Wo kommen wir denn dann her?«
»Worauf unweigerlich die genauso bedeutsame Frage folgt: Woher kommt Gott? Ach ja: Der war schon immer da. Und warum waren wir dann nicht schon immer da?«
»Wenn ich ein Spion des Klerus wäre, stündest du jetzt schon mit einem Bein auf dem Scheiterhaufen.«
»Ach, Leon, mir würde keiner eine Träne nachweinen.«
»Bist du sicher, dass du einfach nur schlecht geschlafen hast?«
»Die Dunkelheit macht etwas Eigenartiges mit den Menschen, wenn sie nicht schlafen. Angeblich verändert sich nichts an der Welt, abgesehen davon, dass das Licht der Sonne verschwindet. Und doch…« Leonardo schüttelte den Kopf. »Ich wünschte, ich hätte nicht immer solche Gedanken, sie machen das Leben genauso beschwerlich wie Prinzipien und Gewissenskonflikte.«
»Die gequälte Seele des wahren Künstlers«, sagte Alberti. Es klang nicht herablassend. »Könnte es dich vielleicht aufheitern, wenn ich dir sage, dass ich möglicherweise einige interessante Aufträge für dich habe?«
»Hm, kommt darauf an.«
»Ich habe den Auftrag, einen Palazzo für einen gewissen Marquis d’Allencourt in Lyon zu entwerfen. Er hat einen ausgeprägten Kunstsinn, und ich könnte deine Hilfe beim Entwurf einiger Ornamente gebrauchen.« Alberti sah Leonardo von der Seite an. »Ich meine Kunstwerke, die von der Straße aus von jedermann bewundert werden könnten, Tag für Tag von früh bis spät.«
»Es wäre mir eine Ehre«, erwiderte Leonardo aufrichtig.
»Wer für mich arbeitet, sollte sich aber tunlichst an die Vereinbarungen halten.«
Leonardo zog die Augenbrauen hoch. »Was willst du damit sagen?«
»Ich hörte von Verrocchio, dass du gern in deinem eigenen Tempo arbeitest und auch nur, wenn dir gerade danach ist.«
»Ich weiß nicht, ob ich noch lange bei Verrocchio arbeiten werde.«
Alberti schmunzelte. »Gut, das wäre also abgemacht.«
Fünf Tage später war Leon Battista Alberti tot. Seine Haushälterin fand ihn morgens auf der Treppe liegend. Der hinzugerufene Arzt konnte nur noch den Tod feststellen, vermutlich war Alberti einem Herzversagen erlegen.
Dem Anschein nach war bei den Trauerfeierlichkeiten alles zugegen, was in Florenz Rang und Namen hatte. Auch das gemeine Volk war in großer Zahl herbeigeströmt, teils aus reiner Neugierde, teils aber auch, weil Alberti eine beliebte Persönlichkeit des öffentlichen Lebens gewesen war.
»Welches Leben nach dem Tod uns auch versprochen werden mag, für die Hinterbliebenen bleibt der Tod ein trauriges Ereignis…«, sagte ein Mann, der neben dem Sarg stehend eine kurze, aber sehr gefühlvolle Ansprache hielt. Man hatte ihn als Paolo dal Pozzo Toscanelli angekündigt, Arzt, Astronom, Mathematiker, Geograph, Physiker und Sprachkundler, Lehrer und Freund des Verstorbenen. Ein hagerer Greis mit kantigem Gesicht und überraschend sanftem Blick.
»…insbesondere, wenn der Tod einen so weisen und begabten Menschen heimsucht wie Leon Battista Alberti, der der Menschheit noch so viel Wertvolles zu bieten gehabt hätte. Ein großer Wissenschaftler und Liebhaber der Kunst, ein äußerst kultivierter und gebildeter Mann, und doch gänzlich frei von Hochmut…«
Und mit Höhen und Tiefen wie jedermann, dachte Leonardo. Leon hatte genau wie er selbst von Zeit zu Zeit melancholische Einbrüche gehabt, die von Zweifeln an sich selbst und den eigenen Fähigkeiten geprägt gewesen waren.
Sie waren Freunde gewesen, wie Leonardo mit leichter Verwunderung konstatierte, weil er nie darüber nachgedacht hatte. Freunde trotz des großen Altersunterschieds. Denn Alberti, der fast siebzig geworden war, war mehr als dreimal so alt gewesen wie er selbst. Den Schmerz über seinen unerwarteten Tod konnte das freilich nicht lindern. Leonardo vermisste ihn jetzt schon, obwohl sie gar nicht so viel Zeit zusammen verbracht hatten. Aber jemanden, der für immer fort war, vermisste man anders als einen, von dem nur die räumliche Distanz trennte. Und tausendmal schmerzlicher…
Jemand tippte Leonardo leicht auf die
Weitere Kostenlose Bücher