Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci
weder gierig ausgestreckte Hände fassen konnten noch Sinne, die dem nicht gewachsen waren. Würde er dazu fähig sein? Er war nicht, wie Orpheus, durch die Liebe zu einem anderen Wesen geschwächt. Liebe ist ein Gift, erkannte er. Sie kann ohnmächtig und krank machen, ja sogar töten. Aber zugleich ist die Liebe vielleicht der einzige Weg, sich aus dem Schmutz zu erheben, in dem das menschliche Leben vegetiert…
»Meister da Vinci?«
Die Stimme Atalantes brachte Leonardo wieder zu sich. Er bemerkte, dass er einen Pinsel in der Hand hielt, von dem schwarze Farbe stetig neben seinen linken Fuß auf die Bühnenbretter tropfte.
»Terpentin«, sagte er automatisch. »Zum Säubern der Bretter. Beeil dich, bevor die Farbe zu tief ins Holz eingedrungen ist.«
Während Atalante davonrannte, legte Leonardo seinen Pinsel zu den anderen in die Schale. Er reckte sich und begutachtete die Kulissen, die er mit seinen Helfern trotz der komplizierten Mechanik in erstaunlich kurzer Zeit gebaut hatte.
Orpheus wäre zufrieden, dachte er. Leonardo selbst war praktisch nie zufrieden mit seiner Arbeit und hatte es sich daher angewöhnt, es auf andere existierende oder nicht existierende Figuren zu projizieren, wenn doch einmal so etwas wie Genugtuung aufkam. Das Publikum würde staunen, wenn die unsichtbare Mechanik die Form der Felsenhöhle verändern und den Eingang zum Hades freilegen würde. Und überdies würde sich durch die veränderte Akustik auch der Klang der Musikinstrumente verändern und damit den staunenswerten Effekt verstärken.
Der Himmel, so es ihn denn gibt, mag ja vielleicht ein lieblicher, die Sinne erquickender Ort sein, dachte Leonardo, aber ach, der Hades ist so viel inspirierender für den offenen Geist!
»Wenn du heute Abend wieder ein Fest geben willst, brauche ich Geld für Bier und Wein«, verkündete Mathurina. »Der Keller ist nahezu leer.«
Leonardo las gerade, was römische Künstler über Anamorphosen geschrieben hatten. Ohne aufzuschauen, sagte er: »Mein Beutel liegt in meinem Schlafzimmer, nimm dir heraus, was du brauchst.«
Es blieb einige Augenblicke still, bis Mathurina fragte: »Vertraust du mir denn so sehr?«
Er schaute immer noch nicht auf. »Wenn du mich bestiehlst, lass ich dich von Kopf bis Fuß mit Ölfarbe bemalen. Das ist tödlich, und es heißt, dass es ein qualvoll langsamer Tod ist.«
»Das würdest du nie tun.«
»Ach nein?« Jetzt schaute Leonardo doch auf, während sich seine Haushälterin schon in Richtung Treppenhaus bewegte. »Und warum nicht?«
»Weil du weißt, dass ich unersetzlich bin«, erwiderte Mathurina und verschwand.
Leonardos Feste waren bei einem erlesenen Kreis von Künstlern und Denkern berühmt-berüchtigt. Es wurde dort vor allem kräftig getrunken, aber man musizierte auch, trug Gedichte vor und führte künstlerische, politische und religiöse Diskussionen, die oft nur um ein Haar nicht in Streit ausarteten.
»Was ich jedes Mal in deinen Bildern vermisse, ist ein Betrachter«, sagte Domenico Ghirlandaio an diesem Abend zu Leonardo. Sein Blick wanderte über die Wände der Werkstatt und die da und dort im Raum stehenden Staffeleien mit teilweise vollendeten Zeichnungen und Gemälden. »Meiner Meinung nach ist jede bildliche Darstellung eine erzählte Geschichte, und der Erzähler gehört mit hinein.«
»Eine Hypothese, die nur seine Eitelkeit beschönigen soll«, meinte Lorenzo di Credi, der selten ein Fest bei Leonardo ausließ. »Domenico kann es nicht lassen, immer ein Eckchen für seinen hässlichen Kopf zu reservieren. Das ist dann der sogenannte Erzähler. Aber was taugt ein Bild, wenn es erst einen Erzähler braucht, um zu erklären, was die Darstellung bedeutet. Ich würde…« Seine weiteren Ausführungen wurden von einem Hustenanfall unterbrochen, der so heftig war, dass di Credi dunkelrot anlief.
»Wer in Würde sterben will, sollte es jung tun«, bemerkte Zoroastro. Er hatte Leonardos lira da braccio auf dem Schoß und entlockte ihr ab und an ein paar zarte Töne.
»Zum Glück bin ich noch weit von dem Alter entfernt, da man ans Sterben denken muss«, entgegnete di Credi, als er sich von seinem Husten erholt hatte. Er griff zu seinem Bierhumpen, leerte ihn in einem Zug und füllte sich aus einem der Krüge, die auf dem Tisch standen, sogleich wieder nach.
»Solange du nicht zu viel säufst«, wandte Ghirlandaio grinsend ein. »Aber wir wollen nicht streiten. Unser Gott ist ein Gott der Liebe und der Friedfertigkeit.«
»Und wenn
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