Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci
seine Vorlesungen über die Philosophie, die Metaphysik, die Ethik, die Physik und die Analytik des Aristoteles an der Universität Florenz.
Und dann war da natürlich Paolo dal Pozzo Toscanelli, den Leonardo bei der Trauerfeier für Leon Battista Alberti kennengelernt hatte. Von ihm lernte er viel über die Optik und ihr verwandte Gebiete. So verdankte er ihm einige höchst faszinierende Erkenntnisse in Sachen Perspektive, einer Disziplin, die jeden Maler oder Zeichner vor Herausforderungen stellte. Optische Täuschung, Himmelsperspektive, Tiefe des Sternenhimmels, das alles interessierte Leonardo außerordentlich. Durch Toscanelli wusste er jetzt zum Beispiel auch, warum die Sonne größer zu werden schien, wenn sie sich gen Westen neigte.
»Weil die Luft dann als ein Vergrößerungsglas fungiert«, dachte er laut.
»Wie bitte?« Paolo sah ihn verwundert an.
Ich bin zu viel allein, wurde Leonardo bewusst. Da fängt man an, mit sich selbst zu reden. Eigentlich hatte er immer geglaubt, dass nur alte Leute das taten.
Er trat an die Brüstung zurück und starrte zum Arno hinüber, von dem er aus dieser erhöhten Warte ein kleines Stück sehen konnte. Die alte Idee, dem Fluss seine Biegungen und Untiefen zu nehmen, war unlängst wieder bei ihm aufgekommen. Mittlerweile dachte er freilich in einem größeren Maßstab. Wenn man das Ganze bis nach Pisa fortsetzte, wäre Florenz vom Meer her für große Schiffe zugänglich. Die Vorteile für Handel und Gewerbe wären gewaltig. Er könnte alle Berechnungen anstellen und die Maschinen entwerfen, damit die Arbeiten schneller und leichter vorangingen.
»Vielleicht sollte ich doch einmal ernsthaft mit dem Stadtherrn darüber reden…«
»Worüber?«, fragte Paolo.
»Oh, entschuldige. Ich rede oftmals mit mir selbst. Wohl weil man mir dann nicht widerspricht.«
Paolo nickte, als könne er das verstehen. Er deutete auf den Segler, an dem er wochenlang mit Hingabe gearbeitet hatte. »Und was machen wir jetzt damit?«
Leonardo zuckte die Achseln und ging zum Treppenhaus in der Dachmitte. Bevor er hineinging, sagte er gleichgültig: »Das ist nichts. Du kannst es wieder auseinandernehmen.«
Der hochgewachsene junge Mann sah sich mit einem raschen Blick neugierig in der Werkstatt um, bevor er sich vorstellte: »Mein Name ist Tommaso Masini, aber man nennt mich zumeist Zoroastro. Geboren in Peretola als unehelicher Sohn des Bernardo Rucellai, Schwager von Lorenzo de’ Medici. Ich bin auf den Gebieten der Malerei, der Bildhauerei und des Schmiedehandwerks versiert, und das überdurchschnittlich. Und ich interessiere mich für Metallurgie und Alchemie.«
Mit leichtem Erstaunen maß Leonardo den jungen Mann von Kopf bis Fuß. Zoroastro, wie sich der Bursche nannte, war einige Jahre jünger als er selbst, strahlte aber ein bemerkenswertes Selbstvertrauen aus, ohne dass er dabei hochmütig gewirkt hätte. Er war groß und schlank, hatte pechschwarzes Haar und markante Züge.
»Und was führt dich in meine bottega , wenn ich fragen darf?«
»Ich suche einen nützlichen Zeitvertreib. Meister Verrocchio verwies mich an Sie, da er, wie er sagte, momentan mehr Leute als Aufträge hat.«
»So? Und erwartest du auch einen Lohn für diesen nützlichen Zeitvertreib?«
»Kost und Logis wären höchst willkommen. Und vielleicht ein paar Kleider. Ich hörte, dass Sie auch Mäntel und dergleichen entwerfen.«
»Für Leute, die es bezahlen können, ja.«
»Ich kann mit meiner Arbeit bezahlen.«
»Für die ich vorerst keine Aufträge habe.«
»Die könnte ich Ihnen beschaffen. Ich habe eine gewisse Begabung fürs Geschäftemachen, und ich verfüge über Beziehungen.«
»Begabung für Bescheidenheit hat er jedenfalls nicht«, bemerkte Paolo, der das Gespräch mitverfolgt hatte.
»O doch, in Gegenwart größerer Geister als mir selbst bin ich die Bescheidenheit in Person.«
Leonardo fragte: »Soll ich daraus schließen, dass du mich und meinen Gesellen nicht sonderlich hochachtest?«
»Das würde ich niemals zu behaupten wagen, Meister da Vinci.«
Paolo fragte: »Kannst du ein Musikinstrument spielen?«
Zoroastro sah ihn verwundert an. »Äh… nein, das nicht. Aber ich bin ein annehmbarer Dichter, und hin und wieder übe ich mich auch in den magischen Künsten. Darf ich erfahren, warum Sie das fragen?«
»Wir verdienen hier nicht viel, aber ein wenig Zerstreuung haben wir gern«, antwortete Paolo.
Zoroastro schaute Leonardo forschend an. »Soweit ich informiert bin, sind Sie
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