Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci
hatte Evangelistas Leiden schließlich nicht mehr mit ansehen können und war regelrecht in die Werkstatt geflüchtet.
»Wir werden baldmöglichst umziehen«, kündigte Leonardo an. »Ich möchte alles unter Dach und Fach haben, bevor die ersten kalten Tage kommen.«
Sie selbst brauchten im Übrigen wenig zu tun. Sforza schickte einen Trupp von seinen eigenen Leuten, die sich der Corte Vecchia annahmen. Vor allem auf die große Halle, in der die Werkstatt eingerichtet werden sollte, wurde besondere Sorgfalt verwendet. Nach Leonardos Vorgaben wurden darüber hinaus die nötigen Materialien und Werkzeuge für die Konstruktion des Pferdes angeliefert.
Als Gehilfen für einfachere Arbeiten brachte Zoroastro eines Tages seinen gerade einmal zehnjährigen Neffen Giacomo di Pietro Caprotti mit. Mit seinem fast vollendet runden Kopf, seiner noch kindlichen Gestalt und seinen üppigen blonden Locken hatte der Knabe etwas von einem Engel an sich. Das fand zumindest Leonardo. Der Knabe weckte sogleich zärtliche Gefühle in ihm, wohl auch deswegen, weil er ihn ein wenig an sich selbst erinnerte, als er im gleichen Alter gewesen war. Neben seiner regulären Arbeit könnte er ein ausgezeichnetes Modell abgeben, dachte er sich.
Zoroastro vertraute ihm freilich unter vier Augen an, dass Giacomo ein kleines Problem hatte. Er klaue wie ein Rabe, auch Dinge, mit denen er gar nichts anfangen könne. Es sei wie eine Krankheit.
Leonardo störte das nicht sonderlich. »Dann werde ich ihm wohl notfalls den Hintern versohlen müssen«, entgegnete er sogar erheitert.
Außer Giacomo stellte Leonardo auch einige Zimmerleute ein, die die gigantischen Gussformen bauen sollten, die er gerade entwarf, sowie Gerüste zu deren Stabilisierung. Vor dem Bronzeguss sollte zudem ein maßstabsgetreues Tonmodell des Pferdes angefertigt werden. Alles Arbeiten, die sich über lange Zeit hinziehen würden, selbst wenn er kontinuierlich dabeiblieb – wovon schon jetzt nicht auszugehen war. Zu sehr stand er wieder im Bann der Anatomie und ihrer Geheimnisse, nicht zuletzt wegen des künstlerischen Aspekts der Proportionen des menschlichen Körpers.
Als sie einmal alle zusammen an einem langen Tisch in der Werkhalle der Corte Vecchia saßen und ihr Mittagsbrot zu sich nahmen, sagte Leonardo plötzlich laut vor sich hin: »Vitruvius…«, und hörte auf zu kauen.
Als keine weitere Erläuterung folgte, fragte Zoroastro ungeduldig: »Ein neuer Kunde?«
»Einer, der schon fast fünfzehnhundert Jahre tot ist.« Leonardo sah Zoroastro vorwurfsvoll an. »Habe ich dir nicht schon einmal gesagt, dass du…«
»Dass ich hin und wieder ein Buch lesen sollte, ja, ja.« Zoroastro biss verärgert in einen Kanten Schwarzbrot und wischte sich mit dem Handrücken das Schmalz von der Oberlippe. »Wenn mir nicht danach ist, lasse ich es lieber.«
»Wissensdurst kann auch ein zwingendes Bedürfnis sein, Zoroastro.«
»Ja, das soll vorkommen.«
»Vitruvius lebte im vorchristlichen Rom und war Baumeister und Ingenieur. Sein Buch über die Baukunst ist bis heute richtungsweisend, vor allem auch wegen der darin enthaltenen Erkenntnisse zur Harmonie der Maße beim Menschen.« Leonardos Blick wanderte zu Giacomo hinüber – er nannte ihn inzwischen Salaì, »kleiner Teufel« –, der am anderen Ende des Tisches gerade wie nebenbei einen Silberstift aufhob und ihn in seinem Wams verschwinden ließ. Außer Leonardo schien niemand etwas davon bemerkt zu haben.
»Und? Ich nehme doch an, dass deine Geschichte noch weitergeht«, hakte Zoroastro nach.
»Wie bitte? Ach so, Vitruvius…« Leonardo fixierte das Brotbrett in der Mitte des Tisches. »In einem seiner Bücher, De architectura , listet er die Maße des menschlichen Körpers auf und setzt sie zueinander ins Verhältnis. Daraus leitet er eine Theorie vom wohlgeformten Menschen ab.«
Zoroastro nickte seufzend: »Hab ich’s mir doch gedacht.«
Leonardo schenkte ihm keine Beachtung. »Vitruvius behauptet, dass der Nabel der Mittelpunkt des Körpers sei und dass ein Kreis, den man von dort um einen mit gespreizten Armen und Beinen auf dem Rücken liegenden Mann ziehe, von den Fingerspitzen beider Hände und den Zehenspitzen berührt werde. Und ebenso finde sich die Figur eines Quadrats an ihm, denn wenn man von den Fußsohlen bis zum Scheitel Maß nehme und dieses Maß auf die ausgestreckten Hände anwende, ergebe sich die gleiche Breite und Höhe. Ich habe das anhand einer Zeichnung von einem Mann in zwei überlagert
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