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Der Maler Gottes

Der Maler Gottes

Titel: Der Maler Gottes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ines Thorn
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bislang noch nicht einmal sein eigener Blick gedrungen ist. Und plötzlich durchfährt ihn erneut ein Schüttelfrost. Eine Erkenntnis, die so gewaltig ist, dass ihm davon der Atem stockt, dass es ihn hochreißt von seinen Knien, so dass er rückwärts durch die Kirche taumelt, den Blick noch immer fest auf Jesus geheftet. Taumelnd lässt er sich auf die nächste Bank fallen, bemerkt nicht das Beben seiner Schultern, das rasende Schlagen seines Herzens, das Zittern seiner Knie. Nichts ringsum bemerkt er in diesem Augenblick. Die Gegenwart besteht nur aus dem gemalten Jesus auf der Altartafel und ihm selbst.
    Er sitzt da, mehr hingeworfen als sitzend auf dem harten, kalten Holz, sieht mit zusammengekniffenen Augen nach vorn zum Altar und versucht, die Botschaft des Herrn zu entschlüsseln, die ihn durchströmt, ihm den Schweiß ausbrechen lässt und den Atem raubt. Die Farben beginnen zu tanzen, verlassen ihre angestammten Plätze, beginnen zu leuchten und zu strahlen, so intensiv, dass Matthias die Augen mit den Händen beschirmen muss. Und jetzt beginnt der Gekreuzigte zu ihm zu reden.
    Ganz deutlich hört Matthias seine Worte, so deutlich, dass er sich umsieht nach den anderen in der Kirche, um zu sehen, ob auch sie die Stimme Gottes hören. Doch die anderen, zwei alte Weiblein, sitzen stumm, mit gesenktem Kopf und gefalteten Händen auf der Kirchenbank und scheinen ins Gebet vertieft.
    »Du bist in eine Falle geraten«, hört Matthias die Stimme seines Gottes. »In eine Falle, in ein Netz von Verboten, Regeln, Traditionen und handwerklichen Geboten. Wenn du Neues schaffen willst, musst du das Alte hinter dir lassen, musst dich von dem Alten befreien. Schwer ist diese Befreiung, sehr schwer und schmerzhaft.« Genauso plötzlich, wie die Stimme zu ihm drang, ist sie wieder verschwunden, die Farben auf ihre Plätze zurückgekehrt, das Leuchten und Strahlen erloschen. Auch die Augen des gemalten Jesus auf der Altartafel geben nun den Blick des Malers frei.
    Matthias schüttelt sich, sitzt dann versunken da und denkt über das Erlebte nach. Habe ich geträumt?, fragt er sich. War es wirklich die Stimme Jesu, die zu mir gesprochen hat, oder war es die Stimme meines Herzens? Er fühlt sich so leicht und frei wie schon lange nicht mehr. Er sieht seinen Weg hell und klar vor sich. Ist es da nicht gleich, ob es die Stimme des Herrn oder die Stimme des Herzens war?, fragt er sich lautlos. Denn erhalte ich nicht alle meine Gedanken von Gott? Er war es, der mich geschaffen hat. Also ist er es auch, der mir aus dem Herzen spricht.
    Jetzt weiß Matthias, wie er seine Skizze anlegen muss. Er ist nicht sicher, dass es gelingt, doch eines weiß er sicher: Er muss seinen eigenen Weg in der Malerei finden, muss sich von den Malweisen seiner Lehrer lösen. Schwer ist das, sehr schwer, denn wie kann man einmal Erlerntes, einmal Verinnerlichtes ablegen, ohne sich selbst dabei in Frage zu stellen?
    Scheut Matthias den Blick in sich selbst? Wagt er es nicht, sich auf die Reise in die tiefste Tiefe seiner Seele zu begeben? Hat er Angst, dabei so tief hinabgerissen zu werden, dass er nicht wieder auftauchen kann? Oder fürchtet er die Erregungszustände, weil er annimmt, damit dem Wahnsinn und nicht dem Eigentlichen, dem Wesentlichen nahe zu kommen? Oder ist gar der Wahnsinn das Eigentliche? Nein, nicht der Wahnsinn, sondern die unbändige Kraft seiner Phantasie ängstigt ihn, lässt sie ihn doch Blicke in Welten werfen, die den anderen nicht vertraut zu sein scheinen und ihn damit noch fremder machen in einer Welt, in der er sich ohnehin oft genug nur als Zaungast fühlt.
    Als er am Zeichentisch sitzt und mit dem Silberstift eine Skizze aufs Papier wirft, ohne sich an Aufrisse, Konstruktionen oder die Regeln der Bildführung zu halten, bemerkt er es selbst: Die Figuren sprengen den üblichen Rahmen, aber noch erscheinen sie nicht so, wie Matthias es gern hätte. Noch sperrt sich seine Hand, die Nothelfer so darzustellen, wie er sie gefühlt hat. Oder besser: Noch sperrt sich sein Geist, anzusehen, was die Seele im Dunkeln für Schatten wirft.
    Und doch ist Matthias zufrieden. Einen ersten, wichtigen Schritt ist er gegangen. Zögernd und zagend, aber doch gegangen. Er hat auf alle Hilfsmittel verzichtet und die Skizze so angelegt, dass die Figuren einander beinahe aus dem Rahmen stoßen. Dicht aneinander gedrängt, jeder den Blick in eine andere Richtung, die Körper unharmonisch nebeneinander, zwingen sie dem Betrachter eine ganz neue

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