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Der Maler

Der Maler

Titel: Der Maler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Silva
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als sei er nicht da. Michael kam sich vor, als sehe er ein drittklassiges Fernsehdrama. Er verschlang zwei Teller von Helens Pasta.
    Nach dem Abendessen verkündete Graham plötzlich, er wolle den neuen Film sehen, der im Kino am Leicester Square laufe.
    Helen stimmte begeistert zu. Sie räumten das Geschirr weg und verließen das Haus. Michael beobachtete aus dem dunklen Wohnzimmer, wie sie in Grahams BMW stiegen und wegfuhren. Irgendwo im Dunkel sprang der Motor eines Wagens an. Michael sah ihn mit Standlicht losfahren.
    Er verließ das Haus durch die Terrassentür, durchquerte den Garten und überwand die Mauer mit der Strickleiter, die auf der anderen Seite zurückblieb. Auf der King's Road hielt Michael ein Taxi an und fuhr zur Victoria Station. Mit dem Geld aus Grahams Safe kaufte er eine Fahrkarte nach Rom. Der Zug ging in einer Stunde. Wenn Wheaton clever war, würde er alle Bahnhöfe und Flughäfen überwachen lassen.
    In einem der Bahnhofsgeschäfte kaufte Michael sich einen wasserdichten Hut, den er tief in die Stirn zog. Dann verließ er die Bahnhofshalle und wartete bei Nacht und Regen im Freien.
    Fünf Minuten vor Abfahrt des Zuges betrat er das Gebäude wieder und ging rasch zum Bahnsteig hinaus. Er stieg ein und suchte ein leeres Abteil. Allein saß er im Halbdunkel, lauschte dem rhythmischen Klacken des Zuges, betrachtete sein Spiegelbild in der Fensterscheibe und dachte über alles nach.
    Als der Zug den Kanaltunnel verließ und in Richtung Paris durch Nordfrankreich raste, sank Michael in leichten, traumlosen Schlaf.

29
    LONDON

    Der Direktor sah die 22-Uhr-Nachrichten von ITN, während sein Chauffeur den silbergrauen Jaguar durch die Straßen des West End steuerte. Er kam von einem unbefriedigenden Dinner mit zähem Lammrücken in seinem Supper Club in Mayfair, dessen andere Mitglieder ihn für einen erfolgreichen, international tätigen Investor hielten, was seine Arbeit bis zu einem gewissen Grad richtig beschrieb. Eine Handvoll Mitglieder vermutete, er hätte vor vielen Jahren eine Zeitlang für den Geheimdienst gearbeitet. Lediglich ein oder zwei Personen kannten die Wahrheit - daß er in Wirklichkeit der Generaldirektor, der legendäre C, des Secret Intelligence Service gewesen war.
    Nur ein Glück, daß er in der guten alten Zeit beim Service gewesen war, als das Department offiziell überhaupt nicht existiert hatte und die Direktoren vernünftig ge nug gewesen waren, ihre Namen und Fotos aus der Presse herauszuhalten.
    Man stelle sich vor, der Chef des Geheimdiensts gewähre The Guardian ein Interview - Ketzerei, Wahnsinn! Der Direktor fand, Spione und Geheimdienste ließen sich durchaus mit Ratten und Kakerlaken vergleichen. Da war es besser, so zu tun, als existierten sie gar nicht. Das trug dazu bei, daß die freie Welt nachts besser schlief.
    Der Anschlag auf die Fähre Dover-Calais beherrschte die Abendnachrichten. Der Direktor war wütend, obwohl aus seiner gelassenen Miene nichts als gelangweilte Insolenz sprach. Nach einem ganzen Leben im Schatten war seine Tarnung meisterlich.
    Er war an Schädel und Hüften schmal, hatte aschblondes, jetzt graues Haar und blasse Chirurgenhände, deren Finger immer eine brennende Zigarette in genau der Länge zu halten schienen, die für eine Zeitschriftenwerbung auf Hochglanzpapier richtig gewesen wäre. Seine Augenfarbe erinnerte an Meerwasser im Winter, sein Mund war schmal und grausam.
    In seinem Haus in St. John's Wood lebte er allein mit einem Jungen, den die Gesellschaft ihm zu seinem persönlichen Schutz stellte, und einem hübschen Mädchen, das Büroarbeiten erledigte und sich um ihn kümmerte. Er war nie verheiratet gewesen, hatte keine Kinder, seine Herkunft war unbekannt. Die Bürowitzbolde im Service hatten immer behauptet, er sei als junger Mann in einem Schilfkorb am Themseufer gefunden worden - in einem Nadelstreifen-Anzug mit Guards-Krawatte und Maßschuhen.
    Er schaltete den Fernseher aus, sah aus dem Fenster und beobachtete das draußen vorbeiziehende nächtliche London.
    Mißerfolg war ihm verhaßter als alles andere, mehr noch als Verrat. Verrat erforderte Intelligenz und Skrupellosigkeit, Mißerfolg nur Dummheit oder mangelnde Konzentration. Die Männer, denen er den Job auf der Fähre übertragen hatte, verfügten über alles Nötige, und sie hatten trotzdem versagt.
    Michael Osbourne war offensichtlich ein würdiger Gegner, ein Mann mit Talent, Intelligenz und Einfallsreichtum. Osbourne war gut; sein Mörder würde besser

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