Der Maler
Schritt klickten.
Michael lief rasch vom Ba hnsteig zum Fährbahnhof hinüber.
Er kaufte ein Ticket, ging an Bord der Fähre, betrat den großen Fahrgastraum auf dem Oberdeck und fand einen Fensterplatz auf der Backbordseite. Als er sich umsah, entdeckte er Graham Seymour, der in Jeans und einem grauen Sweatshirt mit Venice-Beach-Aufdruck und einem Gitarrenkasten neben sich in der Mitte des Fahrgastraums saß. Michael sah rasch wieder weg.
Die junge Frau aus dem Zug kam herein, setzte sich hinter Michael und begann sofort wieder zu rauchen.
Michael las Ze itung, als die Fähre auslief. Dover verschwand hinter einer Regenwand. Michael sah alle paar Minuten zur Backbordreling hinüber, denn dort sollte Awad mittschiffs auftauchen. Einmal ging er zur Imbißtheke, weil ihm das Gelegenheit gab, alle Mitreisenden zu mustern, und kaufte trüben Tee in einem dünnen Pappbecher, den er an seinen Platz mitnahm. Er kannte niemanden außer Graham und der jungen Frau aus dem Zug, die in eine Pariser Modezeitschrift vertieft war.
Eine halbe Stunde verging. Der Regen hatte aufge hört, aber hier draußen auf dem Ärmelkanal frischte der Wind auf und trieb weißschäumende Wogen gegen den breiten Bug der Fähre.
Die junge Frau stand auf, holte sich einen Kaffee und setzte sich dann neben Michael. Sie zündete sich eine neue Zigarette an und nippte eine Weile schweigend an ihrem Kaffee.
»Da ist er, an der Reling, der Mann im grauen Regenmantel«, sagte sie mit einem libanesischen Akzent in ihrem Englisch.
»Gehen Sie langsam auf ihn zu. Sprechen Sie ihn bitte nur als Ibrahim an. Und versuchen Sie nicht wieder, den Helden zu spielen, Mr. Osbourne. Ich bin gut bewaffnet, und Ibrahim hat fünf Kilo Semtex am Körper.«
Michael erschien sein Gesicht vage vertraut, wie das eines Jugendfreunds, den man zwanzig Jahre später dicklich und mit beginnender Glatze wiedersieht. Er kannte das verschwommene Profil von rechts, das der MI5 bei einem von Awads Besuchen in London geknipst hatte. Die undeutliche Aufnahme von vorn, die der französische Geheimdienst bei einer Zwischenlandung Awads in Marseille gemacht hatte. Und das israelische Fahndungsfoto, das den jungen Awad zeigte: den Steinewerfer, den erfahrenen Hersteller von Molotowcocktails, den fast noch kindlichen Intifada-Kämpfer, der einen jüdischen Siedler aus Brooklyn fast mit einem Brocken seines geliebten Hebron erschlagen hatte. Das alte israelische Foto hatte nur beschränkten Wert, den die Shin-Bet-Leute hatten ihn vorher erwischt und so zugerichtet, daß sein geschwollenes, mit blauen Flecken übersätes Gesicht fast unkenntlich war.
Michael und seine Zielperson standen lange nebeneinander an der Reling und starrten auf einen Punkt in den schäumenden Wassern des Ärmelkanals, wie ein streitendes Liebespaar, das sich nichts mehr zu sagen hat. Dann drehte Michael sich halb zur Seite und musterte Awad erneut. Sprechen Sie ihn bitte nur als Ibrahim an. Einen Augenblick lang fragte er sich, ob dieser Mann wirklich Mohammed Awad war. Wheatons weitschweifige Ermahnungen hallten durch Michaels Kopf wie Lautsprecherdurchsagen auf einem Flughafen.
Der neben ihm Stehende wirkte wie Awads älterer, reicherer Bruder. Mit einem teuren grauen Mantel, unter dem er einen eleganten Zweireiher trug, war er wie ein Geschäftsmann angezogen. Sein Aussehen war durch plastische Chirurgie verändert, die das Arabische wegretuschiert und ein Wesen Ungewisser Nationalität geschaffen hatte - einen Spanier, einen Italiener, einen Franzosen, vielleicht einen Griechen. Die markante Palästinensernase war verschwunden und durch die schmale, gerade Nase eines norditalienischen Aristokraten ersetzt. Die Backenknochen waren betont, die Stirnfalten geglättet, das Kinn energischer gestaltet und die rehbraunen Augen durch Kontaktlinsen in graugrüne verwandelt. Man hatte ihm die hinteren Backenzähne gezogen, um ihm das hohlwangige Aussehen eines Supermodels zu geben.
Mohammed Awads Lebenslauf las sich wie die Zusammenfassung vieler radikaler palästinensischer Lebensläufe. Michael kannte seine Biographie gut, denn er hatte sie in Langley mit Hilfe des israelischen und der Hälfte aller europäischen Gehe imdienste zusammengestellt. Sein Großvater war 1948 aus seinen Oliven-und Orangenhainen am Rande Jerusalems ins jordanische Exil getrieben worden. Er war im Jahr darauf gestorben, an gebrochenem Herzen, wie die Awad-Legende behauptete, noch immer mit den Schlüsseln seines Hauses in Israel in der
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