Der Mann auf dem blauen Fahrrad
grünen Samt, der als Unterlage für die Glocke diente.
Seltsam. Die Uhr war offenbar in Gang und zeigte halb acht. Konnte es wirklich schon so spät sein? Bestimmt ging diese Uhr falsch. Oder sie zeigte die Zeit in einer anderen Zone an. Jan Friberg, der sich noch nie in einer anderen Zeitzone befunden hatte als in seiner eigenen, fiel es schwer, das zu glauben. Aber war es nicht recht seltsam, dass sich offenbar jemand die Mühe machte, die Uhr aufzuziehen? Dieses Zimmer war nicht ohne Geheimnisse, so viel stand immerhin fest.
Janne hatte immer eine Vorliebe für Kachelöfen gehabt, besonders für große, reich verzierte Kolosse. In der Stadt, in Västerås also, waren sie immer seltener anzutreffen. Sie wurden abgerissen und auf die Müllkippe geworfen und durch triste, staubfangende Heizkörper ersetzt. Mit den alten Kachelöfen war es ja so, dass man die Wange an die warme, blanke Kachelfläche legen und sich für einen Augenblick geliebt fühlen konnte. Wenn auch von jemandem, der weder einen Namen noch eine Seele besaß.
Auf dem Sims standen verschiedene lustige Dinge. Ein Schiffsmodell, etwas größer als ein Schuhkarton, ein bis ins kleinste Detail ausgeführter Zweimaster. Er schien ziemlich flach zu liegen, war gaffelgetakelt und hatte ausnehmend hohe Masten. Im Heck befand sich ein schmuckes Achterhaus, in dem man sich wohl die Besatzung vorstellen sollte, und eine Reihe detailgenau angefertigter kleiner Tonnen deutete eine Deckladung an. Aber das war ja eine Kogge! So sahen die Schiffe aus, die noch in den dreißiger Jahren auf dem Strömholms-Kanal hin- und herfuhren. Bevor die Dampfschiffe mit ihren langen Schleppzügen sie ersetzten.
Es war ein feines Modell. Der Besitzer war vielleicht Mitglied im Vorstand der Aktiengesellschaft Strömholms-Kanal gewesen? Alles war möglich.
Glaubte Janne.
Zerstreut drehte er den anderen Schmuckgegenstand in der Hand. Es war ein elegantes Etui von der Art, in dem Medaillen, Orden, vielleicht auch alte Uhren verwahrt werden. Er überlegte, ob er es öffnen sollte, verzichtete aber dann darauf. Es könnte einen schlechten Eindruck machen, dabei erwischt zu werden, wie man an dem Verschluss herumfingerte, der in dem dunkelroten Saffianleder fast verborgen war. Wenn jemand hereinkäme.
Was erwartete man jetzt von ihm? Ihm wurde klar, dass es bald Erklärungen bedürfen würde. Konnte man ihn nicht ganz einfach in Frieden lassen? Janne war in diesem Augenblick so müde und hatte derartige Schmerzen, dass er sich nicht richtig sammeln konnte, um diese Frage zu überdenken. Dieser bequeme Sessel schien einen wenn auch höchst vorläufigen Schutz gegen eine Außenwelt mit rasch sich auftürmenden Bedrohungen zu bieten. Wie stand es eigentlich um seine Handgelenke, die Speichen im Unterarm? Würde er die Tour zum Bahnhof von Kolbäck bewältigen? Wenn er Anna-Stina anriefe und ihr berichtete, dass er hier hängengeblieben war und vielleicht würde übernachten müssen – würde sie ihm glauben? Und stand er mit ihr überhaupt noch auf so gutem Fuß, dass er Lust hatte, sie anzurufen? Außerdem – gab es irgendeinen Grund, weswegen die noch immer unsichtbare Familie hier im Haus die geringste Lust haben könnte, ihn übernachten zu lassen?
Ja. Er hatte Schmerzen. Und obendrein waren beide Hosenbeine an den Knien von dem verdammten Alleekies zerrissen. War das Grund genug, um eine Übernachtung zu bitten? Andererseits hatte ihn wirklich niemand hereingebeten. Nicht einmal er selbst.
Alles was er jetzt wollte, war, tief in diesen Sessel versunken sitzen zu bleiben und zu vergessen, wo er war und wohin er unterwegs war, kurz gesagt, sich einen Augenblick von diesem eigentümlichen, bedrückenden und aufreibenden Gefühl zu befreien, jemand Besonderer sein zu müssen, das ihm als die größte Unannehmlichkeit des Menschseins erschien.
Aber es gehörte sich einfach nicht, hier zu sitzen und einzuschlafen.
Zögernd streckte er sich nach dem Bücherstapel auf dem Tisch aus. Die drei obersten Bände waren offenbar Gedichtsammlungen. Die beiden ersten in hübscher Broschur, Euphrosyne und Samothrake hießen sie. Mit schönen schwarzweißen Vignetten. Die eine stellte eine antike Statue dar, die andere eine Küstenlandschaft mit einem angedeuteten Wanderer im Hintergrund. Ein Strandwanderer. Es schien, als hätte derselbe Künstler die beiden Umschläge gestaltet. Von dem Poeten, Oswald Grane, hatte Janne noch nie etwas gehört. Zwischen zwei Seiten lag ein dünnes Blatt
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