Der Mann auf dem blauen Fahrrad
in der Türöffnung. Und gehört zu dieser Welt. Zu einer anderen kann sie ja nicht gehören. Doch sie ist schon so nahe an ihrer Grenze, dass sie, wäre es eine gewöhnliche Wand und nicht Die Wand, diese mit der Hand hätte berühren können. So werden die sterbenden Alten für einen Augenblick zu Besuchern. Es gibt einen Moment, in dem sie unterwegs zu sein scheinen, zugleich zu uns hin und von uns weg.
Die Leichenblasse wollte einen Schritt in die Küche hinein tun. Aber genau da tauchte jemand hinter ihr auf, der sie anscheinend vorsichtig zurückziehen wollte, in den dunklen Raum hinein, aus dem sie herausgetreten war. Und in diesem Moment erblickte sie Janne. Janne fand das ein bisschen unangenehm. Als würde er von jemandem betrachtet, der kein Recht mehr darauf hatte. Doch ihr Blick drückte weder Billigung noch Missbilligung aus, nachdem er ihn in den Fokus genommen hatte. Für einen Moment sah sie ihn mit einem Ausdruck an, der einem Wiedererkennen glich. Ihr Gesicht leuchtete auf.
Janne gelang es nicht, sich wieder zu sammeln, ehe diese merkwürdige fremde Frau, mit einem Gesicht so bleich wie ein frisch gewaschenes Laken und dem weißen Haar in langen Strähnen, wieder verschwunden war. Jemand musste sie in das Zimmer zurückgezogen haben, in dem sie erwartungsgemäß ihre letzten Stunden verbringen sollte. Sie lächelte so freundlich. Kann es wirklich sein, dass sie mich für einen anderen gehalten hat?, fragte sich Janne. Das geschieht ja leicht mit all diesen Gesichtern, die man in einem langen Leben auseinanderhalten muss.
Die ganze Szene hatte sich so rasch abgespielt, dass er nicht ganz sicher war, ob sie zur Wirklichkeit gehörte. Oder nicht. Vielleicht war es eine seiner Phantasien. Jan hatte seit jeher ein sozusagen poröses Verhältnis zu dem gehabt, was die anderen hartnäckig für die »Wirklichkeit« hielten. Träume – gehörten die vielleicht nicht zur Wirklichkeit?
Klar, wenn man im Traum etwas sieht, eine Kristallvase, Johanniskraut mit zarten gelben Blüten an den langen Stielen, oder warum nicht etwa ein schönes Mädchen, dann ist es schwierig, sie in den Raum zu versetzen, in dem man aufwacht.
Aber Ereignisse von gestern oder vorgestern sind ja auch nicht leicht zu versetzen. Gibt es eigentlich einen Unterschied zwischen einem Traum und dem Vergangenen?
Solche Gedanken tauchten manchmal in Janne auf. Gott weiß woher. Sie dienten als eine Art Schutz. Vielleicht hatte das während der langen, tristen Stunden in der Volksschule angefangen? Es ist sicher nicht gut, dachte er, jene zu stören, die gerade im Begriff sind, die Seele vom Körper zu lösen. Sie haben schon einen Fuß im Türspalt. Es ist nicht angemessen, mit ihnen zu verkehren. Sie können von dort Mächte heranziehen. Von der anderen Welt in diese hinein.
– Könnte der Herr so freundlich sein, sich ins Herrenzimmer zu begeben! Und dort zu warten. Nicht hier draußen in der Küche. Hier haben wir keinen Platz für ihn.
Die Stimme hinter ihm war nicht laut, aber bestimmt. Es blieb ihm wohl nichts anderes übrig, als den Anweisungen Folge zu leisten. Aber Janne war noch immer so fasziniert von der alten Frau und ihrer entschwindenden Erscheinung, dass er zusammenschrak, als die stattliche breithüftige Köchin ihren Befehl ausstieß. Es fiel ihm schwer, ihr zu widersprechen: Sie hatte gesehen, wie er eine Birne aus dem Korb mit den ungeschälten stibitzt hatte. Das reichte vermutlich. Wahrscheinlich hatte sie schon eine ziemlich gefestigte Meinung, was für eine Person er war. In der Küche war er wie ein Bettler aufgetreten, stattdessen hätte er sich eigentlich als Herr auf Besuch vorstellen sollen. Aber was für eine soziale Stellung hat eigentlich ein Electrolux-Vertreter, der in ein Herrenhaus kommt? Gehört er in die Küche oder in den Salon? Es wäre angemessen gewesen, wenn er darum gebeten hätte, den Herrn des Hauses oder die Herrin sprechen zu dürfen, als er über die Schwelle trat. Er begann darüber nachzudenken, wie er es gewöhnlich machte. Kam aber nicht darauf, ob er einen Haushalt auf eine bestimmte Weise betrat. Gewöhnlich ergab sich das ganz von allein. Warum hatte er sich nicht vorgestellt? Weil diese Küche mit ihrem Geklapper, ihren Dünsten und ihren lebenden Toten eine paralysierende Wirkung gehabt hatte. Warum hatte er automatisch damit begonnen, wie ein Bettler aufzutreten? Als wäre das für ihn selbstverständlich. Und was war jetzt geschehen? War es als Fortschritt zu betrachten,
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