Der Mann auf dem blauen Fahrrad
Papier, auf dem in einer zierlichen, leicht runden, vielleicht nicht ganz maskulinen Handschrift geschrieben stand:
Ach, all diese kleineren Winkel und Dickichte des Privatlebens!
Wer wagt es, sich an all seine Handlungen zu erinnern? Und
am allerwenigsten an die, welche wir ausführen, ohne sie auch
nur uns selbst anzuvertrauen?
Er steckte das Blatt vorsichtig an seinen Platz zurück.
Das dritte Buch war ein elegant gebundener Halbfranzband, aber den legte er unbesehen zur Seite, als er entdeckte, was zuunterst auf dem Seidentuch lag: ein Fotoalbum im Quartformat, in seinem weichen, dunkelroten Saffianleder angenehm in der Hand zu halten. Wie eine Liebkosung. Es hatte dicke Blätter mit schönen sepiafarbenen Fotos auf beiden Seiten, sorgfältig in Zelluloidecken gesteckt. Aber ohne Anmerkungen oder Untertitel, die verraten konnten, wo oder wie die Bilder aufgenommen worden waren. Oder von wem. Es waren viele, vielleicht um die dreißig. Das wird mir helfen, mich wach zu halten, dachte er. Jan Friberg war ja selbst Fotograf. Aber wie es sich nun fügte, gelangte Janne nicht über die ersten zehn hinaus, ehe er gewollt oder ungewollt in tiefsten Schlaf versank.
Wie es sich nun fügte.
Das erste Bild war erstaunlich schön. Es war kein Atelierbild, sondern draußen im Park aufgenommen worden. In irgendeinem Park. Zweifellos.
Es war also im Freien gemacht worden. An einem Frühlingstag, vor einem blühenden Fliederbusch im Hintergrund. Das schöne Mädchen in einem Kleid, das wohl blau war – obwohl die Sepia das kaum erkennen ließ, vielleicht war es auch einfach weiß, aber das Mädchen stand im Schatten –, wer mag sie sein? Vor einem blühenden weißen Fliederbusch im Hintergrund hält sie selbst Flieder in der Hand. Hat sie ihn gepflückt, oder hat jemand ihn ihr gegeben? Wie heißt sie? Was wartet auf sie? Nimmt sie den Duft des Flieders wahr? Das muss sie wohl. Und das Kleid, das so weich an ihr herabfällt, es ist doch wohl eher blau?
Die Wellen draußen sind immer deutlicher zu hören, und hin und wieder peitschen Äste gegen die Fenster. Die Bäume vor dem Haus sind wohl lange nicht mehr gepflegt und beschnitten worden. Mit einem Schauder stellt er sich den nassen Teppich von nie zusammengerechtem Laub vor, der nach all den heimlichen Prozessen von Fäulnis und Pilzbildung riecht, die der Herbst mit sich bringt, da draußen unter den alten Ahornbäumen, die geduldig einem Wind standzuhalten versuchen, der sie alle früher oder später fällen wird.
Schwer geplagt, pflegte Janne zu versuchen, ein anderer zu werden. Das war am leichtesten. Mal war er sein Verwandter, der selbstbewusste alte Kanalschiffer Bergholm im Kanal von Strömsholm, der drei Schleppkähne durch das Gatt bei Sundbo bugsieren konnte, ohne sie voneinander abzukoppeln. Mal tat er so, als sei er der Klempner Claes Friberg, gebieterisch durch die Werkstatt spazierend. Die Hände auf dem Rücken, aufmerksam auf alles achtend, was geschah, dabei furchtlos gegenüber dem aggressiven Dröhnen der Transmissionsriemen unter der Decke, dem schrillen Kreischen der Blechscheren, dem Keuchen der Gebläse unter den Kohlebecken, nicht unähnlich dem Keuchen der mythologischen Drachen, das Janne manchmal gegen Ende der Nacht von Traum zu Traum verfolgen konnte, wenn das kalte Porzellanlicht des Winters die Jalousien allmählich zu etwas anderem und Bedrohlicherem wandelte als nur einen Teil der Dunkelheit.
Und hin und wieder, nicht selten – das erzählte er nicht gern jemand anders –, spielte er, er habe ein Mädchen, ein Phantasiemädchen, zur Freundin.
Dieses Mädchen, das er nach Belieben hervorrufen konnte und das nie etwas dagegen hatte, mit ihm zu reden, nannte er Irene.
Erschöpft, gleichgültig gegenüber dem, was als nächstes passieren würde, und in dem Bewusstsein, dass die Schmerzen in den Handgelenken zumindest für einen Augenblick nachgelassen hatten, vielleicht deshalb, weil er ganz einfach im Begriff war, zumindest im linken das Gefühl zu verlieren, fiel Jan Friberg in einen unruhigen Schlaf, in dem alle Ereignisse und Unbegreiflichkeiten sich zu dem Fliederduft gesellten und zu einem Traum entfalteten. Er war lang, und er war eigentümlich kompliziert. Und der eigensinnige Fliederduft schwebte beharrlich über allem.
Irene geht zum Zug
H ier ist überhaupt nicht Oktober.
Im Gegenteil, könnte man sagen. Und die Zeit ist eine andere. Jetzt ist Mitte Mai, genauer gesagt der 17. Mai, ein Tag, von dem ja alle wissen,
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