Der Mann auf dem blauen Fahrrad
dass es der norwegische Nationalfeiertag ist, nach der Verfassung, die an diesem Tag im Jahr 1814 im Herrenhaus von Eidsvoll da oben im Gudbrands-Tal unterzeichnet wurde.
Es muss wohl einer der schönsten Tage dieses Frühlings sein, vielleicht des ganzen Jahres, denkt die siebzehnjährige Irene, als sie auf dem mittleren Parkweg zwischen blühenden Fliederbüschen dahingeht.
Ohne in Betracht zu ziehen, dass dies tatsächlich sogar der schönste Tag ihres ganzen Lebens sein könnte – man weiß ja nie –, geht sie beschwingten Schrittes zum Bahnhof von Kolbäck – wo man in den fünfziger Jahren noch vom Schienenbus in den Zug umsteigt – und weiter nach Västerås.
Sie ist auf dem Weg hinaus in die Welt. Genauer gesagt zum Volksschullehrerinnenseminar in Västerås. Um den Hals trägt sie eine einfache kleine Kette aus imitiertem Bernstein, die manchmal den Sommerhimmel über ihr spiegelt. Ihr hellblaues Leinenkleid ist frisch gebügelt. Sie hat die Haare streng im Nacken zusammengebunden, aber ein kühner Pony im Stil der zwanziger Jahre fällt ihr in die Stirn. Auf eine exzentrische, etwas swingende Art. Ihrer Mutter gefällt er nicht. Er erinnert zu sehr an Jazzmusik und kurzberockte Ausgelassenheit. Irene trägt einen Koffer, der ebenfalls etwas vorgibt. Er gibt vor, aus Leder zu sein, ist aber aus Pappe.
Sie hat einen Zettel, auf dem ganz genau beschrieben ist, wohin sie vom Bahnhof in Västerås aus gehen soll. Aber es sind noch mindestens vierzig Minuten bis zur Abfahrt des Zuges.
Zwei Saufbolde winken fröhlich, als sie im Park an einer Bank vorbeikommt, und Irene nickt – etwas verlegen, aber nicht unfreundlich – ihnen zu. An einem so wunderbaren Frühlingstag wie diesem haben auch Saufbolde ein Existenzrecht. Als nächstes kommt Ingenieur Dimmling vom Hüttenwerk, mitten im Mai in einem dunklen Mantel, mit ernster Miene und einer schwarzen Mappe in der linken Hand. In der rechten schwenkt er den Spazierstock, aus spanischem Rohr mit Silberkrücke, eine Gabe zum vierzigsten Geburtstag, kann man vermuten. Der gerade in der Zeitung vermeldet wurde. Also der Tag. Der Ingenieur – kommt er aus Västerås oder vom Hüttenwerk unten? das ist nicht zu sagen – grüßt sehr freundlich. Er kennt sie ja von früher, als sie im Tabakladen gestanden hat, wo er umständlich seine Zigarillos zu wählen pflegt. Am liebsten von der Marke Tärnan. Die Verpackung, ein hübscher Mahagonikasten, ziert auf der Oberseite ein schönes Bild von einer fliegenden Seeschwalbe vor einem blauen Hintergrund. Wenn er vom Bahnhof kommt, würde das bedeuten, dass der Zug aus Västerås eingetroffen ist. Aber sie will ja gottlob in die andere Richtung. Es eilt also überhaupt nicht.
Und der Ingenieur, eine höchst bedeutende Person, verschwindet um die Ecke, nachdem er den Hut gelüpft und Irene einen anerkennenden Blick zugeworfen hat.
An den mächtigen Fliederbüschen am Ende des Parks kann man einfach nicht vorbeigehen. Rasch drückt sie ihr Gesicht in die Masse der weißen und violetten kleinen Blüten und lässt sich von der Welle der aromatischen Düfte davontragen. Oder in verbotene Welten, wohin niemand anders ihr folgen darf.
Sie kann der Versuchung nicht widerstehen, obwohl es vielleicht verboten ist – fast alles, was Spaß macht, ist ja verboten –, ein paar Zweige von diesem duftenden und geheimnisvoll verlockenden Reichtum abzubrechen. Einen weißen und zwei violette. Die dürfen mit nach Västerås, denkt Irene, ohne zu überlegen, wie sie die Zweige bis dahin feucht und frisch halten kann.
Jetzt überquert sie also die Stationsgatan und geht in das Bahnhofsgebäude hinein. Ein muffiger Geruch nach weggeworfenen Apfelsinenschalen und schwammigem Holz schlägt ihr drinnen entgegen, in einer unerwarteten Dunkelheit. Aber hinter den schlecht geputzten Fenstern des Fahrkartenschalters kann man die blanken Messingteile des Bahnhofstelegraphen erahnen: Das Rad mit dem Papierstreifen setzt sich gerade in Bewegung. Und sie fragt sich, warum der Bahnhofsvorsteher Ortman, ein rundlicher und sehr rotbackiger Herr, die Stirn in so tiefe Falten legt, um dann, den Flaggenstab in die Armbeuge geklemmt, hinaus auf den Bahnsteig zu rennen. Es ist doch wohl nichts Besonderes passiert?
Irene hätte ja gern ihre Fahrkarte gelöst, aber jetzt ist niemand da, der sie ihr verkaufen würde. Niemand will Fahrkarten verkaufen.
Also tritt Irene in die sengende Maisonne hinaus, an der Vorderseite des Bahnhofsgebäudes, die zu den
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