Der Mann aus dem Safe
Umständen in Michaels Lebensgeschichte …«
Eine Weile sagte niemand mehr etwas. Ich hörte den Verkehr draußen vorm Fenster rauschen.
»Und worauf läuft das nun alles hinaus?«, fragte Onkel Lito schließlich. »Worauf müssen wir uns gefasst machen?«
»Ein Jahr auf Bewährung, danach Löschung der Vorstrafe. Das heißt, sie taucht nicht mehr in den Akten auf.«
»Das ist alles?«
»Er wird ein wenig gemeinnützige Arbeit leisten müssen«, sagte sie. »Müll vom Straßenrand aufsammeln oder solche Sachen, es sei denn, dem Richter fällt noch etwas Kreativeres ein.«
»Zum Beispiel?«
»Eine Art Wiedergutmachung, Täter-Opfer-Ausgleich. Das ist gerade sehr beliebt. Der Schuldige soll das Opfer irgendwie entschädigen.«
»Sie meinen, den Schaden reparieren?«
»Das könnte es heißen. Es könnte alles Mögliche heißen. Das liegt ganz beim Richter und dem Bewährungshelfer. Und bei Mr. Marsh, dem Geschädigten.«
Da hatte ich es. Meine große Lektion des Tages, die ich mitnehmen und nie vergessen würde. Das ganze Rechtssystem – wenn Sie denken, es besteht einfach aus einem großen Regelwerk, liegen Sie total daneben. In Wirklichkeit setzen sich ein paar Leute zusammen und reden miteinander, entscheiden, was sie mit einem machen wollen. Dann erst, wenn sie ihre Entscheidung getroffen haben, ziehen sie irgendeine Regel hervor, die ihnen in den Kram passt. Bringt man diese Leute gegen sich auf, hat man keine Chance. Sie machen aus einem Strafzettel eine Busfahrkarte ins Gefängnis. Andererseits, sollten sie beschließen, dass es in ihrem eigenen Interesse liegt, einen zu verschonen, wird man verschont.
Und so geschah es. Ein paar weitere Tage schlichen dahin, in denen alle sich noch ein bisschen mehr besprachen. Dann stand ich schließlich vorm Bezirksgericht, wo meine Anwältin auf schuldig plädierte und ich mir vom Richter anhören durfte, was für ein Glück ich hatte, dass ich die Gelegenheit bekam, mich von meinen Sünden reinzuwaschen.
Am Tag darauf saß ich in einem Besprechungsraum mit einem Bewährungshelfer und dem Mann, in dessen Haus ich eingebrochen war, Mr. Norman Marsh. Er war ein Baum von einem Kerl, übermäßig gebräunt, lautes Organ, total hoppla, jetzt komm ich. Nicht weiter überraschend, dass sein Sohn ein Footballstar an der Highschool war. Mr. Marsh hätte mich mit einem Schlag töten können, wenn er gewollt hätte. Ein Blick in seine Augen zerstreute jeden Zweifel darüber. Doch bei dem Treffen ging es lediglich darum, sich gegenseitig zu versichern, dass wir alle das Programm verstanden hatten – dass ich meine Schuld eingestanden hatte und während der Sommerferien zur Entschädigung für Mr. Marsh arbeiten würde. Mr. Marsh saß aufrecht auf seinem Stuhl und sah sehr smart aus in seinem tadellosen Anzug mit Krawatte. Er schüttelte meine Hand mit einem kräftigen, aber nicht knochenbrechenden Händedruck, als der Zeitpunkt gekommen war.
»Ich glaube, das wird für uns beide eine positive Erfahrung werden«, sagte er. »Sie wird mich vielleicht etwas über Vergebung lehren, und ich hoffe, dass ich dem jungen Michael hier ein bisschen was von meiner Lebenserfahrung mitgeben kann.«
Mit anderen Worten, er sagte genau das Richtige, und der Bewährungshelfer war gewiss höllisch beeindruckt. Er verbuchte das Ganze schon in der Erfolgsspalte. Dachte vielleicht sogar an die gute Presse, die er dafür bekommen würde, dass er den Wunderjungen auf den rechten Weg geführt hatte. Noch so ein Hirnklempner mit Träumen.
Das schwere Verbrechen lag nun fast zwei Wochen zurück. Ich hatte meinen Kopf hingehalten und bereitete mich innerlich darauf vor, am nächsten Tag um Punkt zwölf Uhr mittags bei den Marshs vorstellig zu werden. An diesem Abend saß ich draußen vor dem Schnapsladen auf dem Heck von Onkel Litos Wagen. Es war eine sehr warme Nacht, der Beginn einer echten Hitzewelle. Die beiden gelben Warnlichter am Brückendamm blinkten abwechselnd. Gelb oben, Gelb unten. Gelb oben, Gelb unten.
Ich sah zu, wie die Autos über die Main Street fuhren, manche mit offenen Fenstern, Leuchtspuren aus Zigarettenglut hinter sich herziehend, Musik dröhnte in die Nachtluft. Ich fragte mich, wie viele dieser Leute auf dem Heimweg zu einem Fernsehabend und einer späten Mahlzeit waren. Ganz bestimmt war einer von ihnen unterwegs zu einem Ort weit, weit weg von Milford, Michigan. Wenn er mich zufällig hier in dem trüben Licht des Schnapsladens sah, würde er mich
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