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Der Mann aus London

Der Mann aus London

Titel: Der Mann aus London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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bisher. Daraufhin verlor der Mann mit der Melone doch die Beherrschung, stand ungeduldig auf und lief zweimal im Salon auf und ab. Dann blieb er hinter Brown stehen und legte ihm plötzlich beide Hände auf die Schultern. Diesmal lief ein leichtes Zittern durch Browns Körper, aber nur ganz kurz. Die Beine blieben auch weiterhin übereinandergeschlagen.
    »So lassen Sie uns doch mit offenen Karten spielen, Mr. Brown!« sagte er und setzte sich wieder. »Sie kennen den alten Mitchel genauso gut wie ich«, fuhr er in weniger aufsässigem Ton und fast herzlich fort. »Das Palladium war schon vor fünfzehn Jahren, als Sie in der Music-Hall debütierten, in seinem Besitz. Wenn ich mich recht erinnere, hat er Sie mehrmals engagiert. Ein wunderbarer Saal … Und dann die Außenfassade! Aus grauen Quadersteinen – Sie sehen sie vor sich, nicht wahr? Das hell erleuchtete Trottoir, das Defilee der an der Treppe vorfahrenden Wagen, die beiden Polizeiposten, der Portier, die Pagen … Und über dem Eingangsportal in blendend heller Leuchtschrift die Reklame für die jeweilige Vorstellung. So blendend hell, daß alles, was hinter der Schrift ist, völlig dunkel erscheint. Die Mauer zum Beispiel, das heißt die ganze Fassadenpartie über dem Zwischengeschoß.«
    Brown steckte sich mit sicherer Hand eine Zigarette an und legte die Hände dann wieder aufs Knie.
    »Sie kennen auch Mitchels Büro, nicht wahr? Ganz oben unter dem Dach, auf gleicher Höhe wie das umlaufende Deckengesims des Zuschauerraums. Sie wissen ja: Mitchel hat nie ein anderes Büro gewollt, auch wenn die Artisten nicht gerade begeistert davon waren, auf einer Eisentreppe die sechs oder sieben Etagen zu ihm hinaufzusteigen.«
    Germain hatte angefangen, im Speisezimmer die Tische zu decken, und die Hotelbesitzerin gab ihm Anweisungen. Er erschien kurz auf der Schwelle zum Salon:
    »Möchten die Herren zusammen speisen?«
    »Aber natürlich!«
    Brown hatte keinen Ton von sich gegeben.
    »Es ist Ihnen ja bekannt, Mr. Brown, daß Mitchel sich am letzten Wochenende entschlossen hat, sein Unternehmen an eine Filmgesellschaft zu verkaufen. Die Sache ist durch die ganze Presse gegangen, und es hat rührselige Kommentare über das Ende der alten Music-Hall gegeben. Sie wissen bestimmt auch, daß das Geschäft am Samstag nachmittag um drei Uhr in Mitchels Büro abgeschlossen wurde und daß die Käufer sofort eine Anzahlung von fünftausend Pfund in bar geleistet haben.
    Im übrigen eine seltsame Sache, denn es heißt, daß Mitchel nur aufgegeben hat, um seiner Tochter eine anständige Mitgift zahlen zu können. Aber das ist im Augenblick belanglos. Wenden wir uns lieber diesem Samstagnachmittag und Samstagabend zu.
    Der Geldbetrag ist in Mitchels Safe, denn die Banken sind ja geschlossen. Die Nachmittagsvorstellung ist vorüber, und Mitchel verläßt gewohnheitsgemäß nicht einmal das Haus, um zu Abend zu essen, sondern begnügt sich mit ein paar Sandwiches an seiner Bar.
    Sie kennen doch die Bar, nicht wahr? Die in der ersten Etage nach vorn hinaus, die Fenster sind praktisch direkt hinter der Leuchtreklame. Und der Zufall will es, daß eines dieser Fenster wegen des vielen Zigaretten- und Pfeifenrauchs immer halb geöffnet ist.
    Um acht Uhr abends ist Mitchels Geld also immer noch im Safe seines Büros. Um halb neun holt Mitchel unten an der Kasse die Tageseinnahmen ab und geht damit in sein Büro zurück. Am Fuß der Eisentreppe, die zu Mitchels Büro hinaufführt, ist rund um die Uhr ein Angestellter, der den Auftrag hat, niemand vorbeizulassen. Aber das wissen Sie ja selbst. Und Sie wissen auch, daß Mitchel sich ein paar Meter von seinem Büro entfernt in dem Deckengesims eine kleine Loge hat einrichten lassen, von der aus er sowohl den Zuschauerraum wie die Bühne überblicken kann.«
    Brown hörte folgsam zu.
    »Ich bin gleich fertig. Aber hören Sie gut zu, wie’s weitergeht. Mitchel hat sein Büro verlassen und verbringt genau zwanzig Minuten in der erwähnten kleinen Loge. Und als er ins Büro zurückkommt, ist der Safe leer. Über die Treppe ist niemand gekommen: Nach Aussage des beauftragten Angestellten ist keiner hinaufgestiegen und keiner heruntergekommen. Indessen hat mein lieber alter Brown am selben Abend ein Glas Bier an der Bar getrunken, wie ich ein wenig später erfahre …
    Sie hören mir doch zu, nicht wahr? Das bedeutet nur eins: Der Zugang zum Büro war nur über die Außenmauer möglich, und der Eindringling mußte sich senkrecht an der Mauer

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