Der Mann aus London
aufzustoßen. Von drinnen hörte man Wasser plätschern. Er blieb jedoch nur kurz an der Tür stehen.
»Mach dich aber schön!« rief er seiner Tochter im Spaß zu und ging dann rasch weiter.
Der Mann in der Hütte mußte Hunger haben. Der Regen hielt an, und die Hütte hatte mindestens zehn undichte Stellen, durch die das eisige Wasser durchsickerte.
»Geh mal einen Moment raus, Ernest«, befahl er in der Küche.
»Warum?«
Er schob den Jungen in den Hausflur hinaus und hielt dann die Handflächen übers Herdfeuer wie immer, wenn er sich die Hände gewaschen hatte.
»Also, ich hab mir’s durch den Kopf gehen lassen«, wandte er sich an seine Frau. »Die Sache, von der Henriette heut früh erzählt hat … Du redest mit keinem darüber, verstanden?«
»Und wenn er mit deinem Boot abhaut?«
Daran hatte er gar nicht gedacht.
»Also dann … Dann kann man auch nichts machen«, brummte er verärgert.
Henriette hatte Puder und Rouge aufgelegt, ein klein wenig zu viel Rouge, was um so mehr auffiel, als sie ihr grünseidenes Kleid trug. Jedesmal, wenn sie sich so anzog, stellte man verwundert fest, daß sie mehr auf den Rippen hatte, als man dachte.
»Wo gehen wir hin?«
»Mal sehen …«
Sie gingen schweigend bis zum Fußweg, der in die Stadt führte. Maloin wußte auch nicht warum, aber er hatte das gleiche Gefühl wie an Feiertagen oder Familienfesten: das Gefühl von etwas Außergewöhnlichem.
»Sag mal … Hat Monsieur Laîné dir eigentlich den Hof gemacht?«
»Ach, wo denkst du denn hin!«
Er warf ihr aus seinen kleinen Augen einen prüfenden Blick zu, in dem zugleich Genugtuung und Besorgnis lag.
»Ich hab Mutter gesagt, sie soll mit niemand über die Sache mit der Hütte sprechen. Und du tust das auch nicht, klar?«
Ein Kutter war gerade am Auslaufen, und die Mannschaft auf Deck schaute lächelnd zu Henriette herüber. Auch Henriette benahm sich nicht wie gewöhnlich. Sie ging beschwingter, behutsamer, sozusagen im Sonntagsschritt. Sie machte einen Bogen um die Pfützen, und ihr Gesicht strahlte wie von innen her.
»Gehen wir ins Café Suisse?« fragte sie.
Maloin antwortete nicht sofort, denn er schaute gerade zu seinem Stellwerkshäuschen auf der anderen Seite des Hafenbeckens hinüber. Bei dem Gedanken, daß er reich war, durchrieselte es ihn. Unglaublich! Wenn er allein war, versuchte er sich manchmal vorzustellen, was er alles mit dem Geld anfangen konnte, aber irgendwie überstieg das sein Vorstellungsvermögen. Jetzt aber, während er mit seiner Tochter spazierenging, kamen ihm ganz neue Möglichkeiten in den Sinn.
»Und wenn du nicht mehr arbeiten müßtest? Würde dir das Spaß machen?«
»Aber das geht doch nicht«, sagte sie und ahnte natürlich nicht, daß tatsächlich etwas hinter seinen Worten steckte.
»Und wenn’s doch ginge? Wenn du Kleider bekämst, die schöner sind als die der Tochter von Laîné?«
»Ach, die … Die kann ausgeben, so viel sie will, bei der sieht doch alles aus wie vom Trödler.«
In der Glaskabine sah Maloin die Umrisse seines Kollegen als dunkelgrauen Schatten. Auch der Tag war grau. Die Straßenlampen waren noch nicht angegangen, wodurch alles sehr trist wirkte. Sein Kollege von der Tagschicht würde ihn bestimmt noch sehen, wie er mit seiner sonntäglich gekleideten Tochter spazierenging, und er würde ihn beneiden.
Dort, wo der Kai eine Biegung machte, waren zwei Gendarmen postiert; ein weiterer stand am Hafenbahnhof. Die meisten Leute hatten es eilig. Die Dämmerung hatte eingesetzt, und alle versuchten möglichst dicht an der Hauswand zu gehen, um von den vorbeifahrenden Wagen nicht bespritzt zu werden.
Im Café Suisse gingen die Lichter an. Das Grammophon war angestellt. Camélia saß schon in ihrer Ecke. Da Maloin mit seiner Tochter zusammen war, tat sie so, als ob sie ihn nicht kennte, musterte Henriette jedoch von Kopf bis Fuß.
»Du kannst dir was Ordentliches bestellen, einen Likör oder so. Garçon! Einen Likör und einen Calvados!«
»Einen Bénédictine für Mademoiselle?«
Sie konnte sich nicht recht entscheiden.
»Lieber auch einen Calvados, aber ein Stück Zucker dazu.«
Henriette kam als erste wieder auf die Angelegenheit zu sprechen.
»Ich möchte wissen, ob der überhaupt was zu essen hat«, fing sie an. »Weiß man eigentlich, ob er jung ist?«
Weder alt noch jung! Er war alterslos. Ein trauriges und ruheloses Wesen.
»Ein Pechvogel!« dachte Maloin, während er wieder das langsam dahingleitende Boot und den Bootsanker
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