Der Mann aus London
Hafenbahnhofs erkennen.
»Ach so … Ein Engländer …«
Der Gendarm dachte nur an seine Ablösung, und Maloin fand das widerlich. Er hätte sich gern längere Zeit mit dem anderen unterhalten und dieses Gespräch in dem Gedanken genossen, daß der Klang ihrer Stimmen bis zu dem Versteckten da unten dringen würde.
Die Flut hatte eingesetzt. Gegen fünf Uhr würde sie die Steilküste erreicht haben, und bei bewegter See würde das Wasser gegen die Tür des Schuppens schlagen.
»Sie wohnen hier oben?« fragte der Gendarm, um etwas gesagt zu haben.
Maloin deutete auf die drei Häuser am Steilhang, und sein Gesprächspartner seufzte mit Überzeugung:
»Nicht gerade lustig hier oben!«
»Sagen Sie mal … Womöglich ist dieser Engländer bewaffnet …«
»Ist er nicht, hat man uns gesagt.«
Maloin wollte noch nicht fort, andererseits war es wenig plausibel, unbeweglich im Regen stehenzubleiben und das Meer anzustarren. Aber gerade dieser Regen übte eine beruhigende Wirkung auf ihn aus. Dazu die Anwesenheit des Gendarmen, der trübsinnige Anblick der nassen Hausdächer vor ihnen und der weißen Schaumkronen auf dem graugrünen Meer. Die Welt sollte grau und düster sein, das war gut … Er lauschte auf das feine Trommeln der Wassertropfen auf dem Wellblechdach und wußte, daß sich im Innern kleine Rinnsale gebildet hatten.
»Ist es denn so sicher, daß er die Stadt nicht verlassen hat?« fragte er wie nebenbei, etwa so, als ob er den anderen um Feuer gebeten hätte.
»Gott, ich weiß auch nur, was man mir gesagt hat. Dieser Inspektor von Scotland Yard versichert, daß der Mann keinen Sou in der Tasche hat und außerdem keinen Revolver und auch kein Messer.«
Das brachte Maloin auf den Gedanken, daß sein Clown ja gar nichts zu essen hatte. Es war schon faszinierend, hier oben zu stehen und seinen Gedanken nachzuhängen. Was mochte in dem Mann da unten vorgehen, wenn er direkt über sich Stimmen hörte? Stellte er sich vor, daß er eingekreist war? Sicher zitterte er, vor Angst und auch vor Kälte. Und was war in ihm vorgegangen, als Henriette die Hütte betreten hatte?
Maloin stieß mit der Fußspitze einen kleinen Erdklumpen über den Rand der Steilküste auf das Wellblechdach hinab.
»Ist das Ihre Hütte da unten?« erkundigte sich der Gendarm. »Haben Sie ein Boot?«
»Nur ein leichtes Fischerboot. Aber nächstens will ich mir ein Motorboot zulegen.«
»Mit wieviel wird man eigentlich pensioniert bei der Bahn?«
»Mit fünfundfünfzig.«
Zu denken, daß der Mann direkt unter ihnen war und nichts zu essen hatte! Nach Art eines Schuljungen, der auf dem Heimweg Steinchen vor sich her kickt, ließ Maloin einen zweiten Erdklumpen auf das Dach kollern. Der Ausdruck in seinen Augen war unsicherer geworden. Seit der Gendarm von der Pensionierung angefangen hatte, ließ ihn der Gedanke nicht mehr los, daß der andere in wenigen Tagen tot sein würde, wenn er ihm nicht aufmachen kam. Und diese Vorstellung beschwor wiederum andere Bilder herauf: Maloin sah sich selbst, wie er nachts und bei Flut einen mageren und steifen Körper ins tiefere Wasser schleifte.
»Na, ich will mal essen gehen«, verabschiedete er sich und stapfte zu seinem Haus zurück, die Hände immer noch in den Taschen vergraben.
Es war beängstigend, seinen Gedanken freien Lauf zu lassen. Zum Beispiel war es so gut wie sicher, daß die Gendarmen in der kommenden Nacht mit Taschenlampen ausgerüstet ihre Runden drehten. Und wenn der Clown sich im falschen Augenblick bewegte, ein Geräusch verursachte …
Als er ins Zimmer trat, saß die ganze Familie bei Tisch; auch Ernest, der schon von der Schule zurück war. Maloin setzte sich, nahm schweigend seine Mahlzeit ein und ließ seinen Blick dabei über Frau und Kinder gleiten.
»Hast du Lust, mit mir in die Stadt zu gehen?« wandte er sich plötzlich an Henriette.
Henriette blickte fragend zu ihrer Mutter hinüber, die mit dem Kopf nickte.
»Gute Idee! Geht spazieren, alle beide.«
»Und ich?« quengelte Ernest.
»Du bleibst schön hier.«
Maloin ging ins Schlafzimmer hinauf, kämmte sich das Haar und bürstete seinen Anzug. Dann holte er die alte Keksdose aus dem Spiegelschrank hervor, um ein wenig Geld mitzunehmen. In der Dose waren zwei Scheine, ein Tausender und ein Fünfhunderter. Er nahm sie alle beide und steckte sie verstohlen in die Tasche.
»Bist du fertig, Henriette?«
»In fünf Minuten!«
Er ging an ihrem Zimmer vorbei und war einen Augenblick in Versuchung, die Tür
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