Der Mann aus London
ein paar Wochen oder Monate abzuwarten und dann seine vorzeitige Pensionierung beantragen.
Er würde von hier wegziehen, aber doch wenigstens in der Normandie bleiben, südlich der Seine zum Beispiel, in der Gegend von Caen. Und er würde sich ein Segelboot mit Hilfsmotor kaufen und nur noch zum Vergnügen fischen gehen.
»Trotzdem …« fing Henriette wieder an. »Wie Mutter das alles aufnehmen wird?«
Ihre Unruhe wuchs, je näher sie dem Haus auf der Steilküste kamen. Es war spät geworden, und Maloin würde gerade noch Zeit bleiben, sich umzuziehen und zu Abend zu essen, ehe er zur Arbeit mußte.
Würde der Mann nicht versuchen, in der Nacht aus seinem Schlupfwinkel herauszukommen? Hinter dem Boot lag allerhand Werkzeug. Wenn es ihm gelang, ein Loch in die Holztür …
Grauenhaft wäre das, nicht mehr zu wissen, wo der andere war! Noch viel grauenhafter, als ihn in der Hütte zu wissen! Hatte er auch nur eine Sekunde gezögert, den anderen um die Ecke zu bringen? Nein! Er hatte ihn schlicht und einfach umgebracht, wie man sich das gar nicht vorstellen kann, wenn man es nicht selbst erlebt hat. So schlicht und einfach, daß es im Augenblick gar nicht aufregend gewesen war.
Wenn er seit vierundzwanzig Stunden nichts gegessen hatte, dann war er nun mitgenommen. Er hatte ja vorher schon elend ausgesehen.
Andererseits hatte er, eingesperrt in der dunklen Hütte, immerhin den Vorteil …
Vielleicht war es das beste, sich durch die Tür mit ihm zu verständigen, ganz leise, damit niemand etwas merkte. Etwa in der Art, daß er ihm einen angemessenen Anteil bot?
»Es ist Besuch da«, sagte Henriette, als sie nicht mehr weit von zu Hause weg waren.
»Woran siehst du das?«
»Im Hausflur ist Licht.«
Die Lampe im Flur wurde tatsächlich nur angemacht, wenn jemand zu Besuch war.
»Hast du den Schlüssel?«
Sie schloß auf. Von drinnen waren Stimmen zu hören. Henriette überlegte, ob es nicht klüger sei, ihre neuen Sachen und die Pakete im Hausflur zu lassen, aber der Vater schob sie vor sich her in die Küche.
Am Küchentisch saßen Schwager und Schwägerin.
»Ich wußte gar nicht, daß ihr kommen wolltet«, sagte Maloin und sah an ihnen vorbei.
»Was ist denn das? Hat Vater das alles …?« rief seine Frau fast gleichzeitig aus.
Sie befühlte den Mantel, das Béret, die Handschuhe und blickte mit einem Anflug von Entsetzen zu ihrem Mann hinüber.
»Und ich, kriege ich nichts?« maulte Ernest, der das Päckchen mit den Strümpfen aufgemacht hatte.
Die Schwägerin fand Henriettes Mantel zu auffallend. Und auch der Schwager mischte sich ein.
»Ich hatte gerade zu deiner Frau gesagt«, wandte er sich an Maloin, »daß es nicht recht von dir war, Henriette aus einer gesicherten Stellung in einem soliden Geschäftshaushalt wegzunehmen.«
Es waren einfach zu viele Menschen in der Küche, und die halb geöffneten Pakete vergrößerten die Unordnung noch. Sie redeten alle durcheinander. Henriette zeigte ihre neuen Schuhe vor, und vom Herd kam der Geruch von Angebranntem.
»Heutzutage ist es so schwierig geworden, eine gute Stellung zu finden!«
Maloin senkte den Kopf wie ein gereizter Stier. Um ihn herum war Aufregung und Lärm, und er war überzeugt, daß es ihm nie gelingen würde, da Ordnung hineinzubringen und aus so einer komplizierten Lage herauszukommen.
»Scheiße!«
Er stieß einen entmutigten Seufzer aus, als er zur Tür hinausging, um sich im Schlafzimmer umzuziehen. Oben fuhr er sich mit der Hand über die Augen, bevor er den Lichtschalter anknipste.
8
Auch der Speisesaal hatte eine Glaswand zur Hotelhalle hin, so daß Madame Dupré von ihrem Platz aus alles dirigieren konnte.
Es waren nicht viele Leute da. Zur Abendessenszeit war ein junges Paar gekommen, das sich vorher nach dem Preis für ein Menu erkundigt hatte: Neuvermählte aus bescheidenen Verhältnissen, die auf der Hochzeitsreise nach London waren. Madame Dupré hatte sie in die linke Ecke gesetzt, und sie waren sichtlich eingeschüchtert durch das ganze Silber und den feierlichen Anzug, in dem Germain das Essen servierte.
Außer einem Vertreter, der für zehn bis zwölf Tage in Dieppe blieb, waren nur noch die Engländer im Speisesaal. Der alte Mitchel und seine Tochter saßen auf der einen Seite des Tischs, Inspektor Molisson auf der anderen.
Die Anwesenden nahmen ihre Mahlzeit schweigend ein, und Madame Dupré wußte, daß das bis zum Schluß so bleiben würde. Das war immer so, wenn nicht mindestens fünf Tische besetzt
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