Der Mann aus London
waren. Die allgemeine Hemmung sprang dann so sehr ins Auge, daß etwaige Essensgäste unweigerlich auf der Schwelle zum Speisesaal stehenblieben und den Rückzug antraten. Bei so wenigen Gästen wurde zwangsläufig auch zu schnell bedient, und Germain war schließlich so weit, daß er auf die Teller lauerte wie auf eine Beute.
Die Gäste waren gerade beim Käse, als sich die Eingangstür öffnete. Zögernde Schritte kamen näher, und eine junge Frau tauchte auf. Sie blickte sich verschüchtert um.
»Sie möchten ein Zimmer?« fragte Madame Dupré aus dem Hintergrund.
Die junge Frau antwortete auf Englisch, und Madame Dupré drückte rasch auf die Klingel, mit der sie Germain herbeirufen konnte, der etwas Englisch sprach.
Inspektor Molisson hatte vom Speisesaal aus die junge Frau ebenfalls gesehen und war aufgestanden.
»Das ist doch Browns Frau«, murmelte er und wandte sich zur Halle. »Ich frage mich, was sie hier will.«
»Das kann ich Ihnen sagen!«
Eva Mitchel war ebenfalls aufgestanden und legte ihre Serviette auf den Tisch.
»Sie ist gekommen, weil ich sie telegraphisch hergebeten habe«, fügte sie mit einem leicht provozierenden Lächeln hinzu.
Mit diesen Worten ging sie der jungen Frau entgegen.
»Mrs. Brown, ja?« begrüßte sie sie auf Englisch, als ob alles so verabredet sei. »Wollen Sie mit mir in den Salon kommen? Ich bin Eva Mitchel …«
Madame Brown war Ende Zwanzig. Sie mußte einmal sehr hübsch gewesen sein, von einer zerbrechlichen Schönheit, die noch nicht ganz verschwunden war, jedoch ihren Glanz eingebüßt hatte. Als sie Brown geheiratet hatte, war sie Tänzerin in einer drittklassigen Truppe gewesen. Damals schon war sie so zurückhaltend gewesen, hatte sie das gleiche Lächeln gehabt, das so aussah, als ob sie sich für ihre Existenz entschuldigen wolle.
Eva Mitchel hatte sich lässig auf die Armlehne eines Sessels gesetzt und steckte sich eine Zigarette an.
»Haben Sie etwas von Ihrem Mann gehört?«
»Nein. Er muß in Rotterdam sein. Als ich Ihr Telegramm bekommen habe, da habe ich im ersten Augenblick gedacht, es ist ihm etwas passiert.«
»Sagen Sie, welchen Beruf übt Ihr Mann eigentlich aus?«
»Er reist für eine französische Firma, die Schminke und Perücken fürs Theater vertreibt.«
»Wenn er Ihnen das gesagt hat, dann hat er gelogen. Er ist Einbrecher, und der Herr, der dort drüben gerade wieder Platz nimmt, das ist ein Inspektor von Scotland Yard, der nach ihm fahndet.«
Sie brachte das so selbstverständlich vor, daß Madame Brown unbeweglich und mit weit aufgerissenen Augen stehenblieb. Offenbar kam es ihr gar nicht in den Sinn zu protestieren.
»Und mein Vater, der weißhaarige Herr bei dem Inspektor, das ist Harold Mitchel, der Direktor des Palladium.«
Die kleine Madame Brown sah so aus, als wolle sie sich verneigen. Der Glanz dieses Namens schien sie noch mehr zu beeindrucken als die schreckliche Anschuldigung gegen ihren Mann.
»Ihr Mann hat meinem Vater mehr als fünftausend Pfund gestohlen.«
Molisson beobachtete die Frauen durch die beiden Glaswände hindurch: Mademoiselle Mitchel in ihrer nonchalanten Haltung auf der Armlehne des Sessels und Madame Brown, die wie erstarrt vor ihr stand, den Bügel ihrer Handtasche krampfhaft umklammert hielt und offenbar jetzt schon bereit war, alles zu tun, was die andere von ihr verlangte.
»Wenn Sie wollen, kann ich den Inspektor rufen. Er wird Ihnen all das bestätigen …«
Madame Brown schüttelte den Kopf, aus Höflichkeit.
Zur gleichen Zeit etwa betrat Maloin die Glaskabine und begrüßte seinen Kollegen mit dem traditionellen »Alles klar?«
»Alles klar. Sag mal, Alter, was hast du eigentlich?«
»Ich? Was sollte ich haben?«
Er stellte seine Kanne auf den Ofen, legte sein Brot auf den Tisch und zog eine Zeitung aus der Tasche.
»Immer noch alles voller Gendarmen?«
»Sie sind jetzt auf Streife. Ab und zu siehst du eine Taschenlampe, die irgendwo in einen versteckten Winkel leuchtet.«
Eva Mitchel ließ der kleinen Madame Brown keine Zeit, zur Besinnung zu kommen.
»Das ist fast das ganze Geld, das uns noch geblieben war, meinem Vater und mir. Wenn Brown es zurückgibt, überlassen wir ihm etwas davon und ziehen unsere Anzeige zurück. Wenn er sich weigert, wird er wegen Mord verurteilt und gehängt.«
»Wegen Mord?«
»Ja. Er hat hier in Dieppe seinen Komplizen Teddy umgebracht, vor drei Tagen. Sie kannten Teddy doch, nicht wahr?«
»Ja. Er ist für die gleiche Firma gereist
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