Der Mann Aus St. Petersburg: Roman
wird zum Abendessen erwartet.« Lydia besprach die Menüs mit ihr und schickte sie dann fort. Warum frühstückte Charlotte nur so ausgiebig auf ihrem Zimmer? überlegte sie. Und zu so später Stunde! Hier draußen auf dem Lande stand Charlotte gewöhnlich sehr früh auf und hatte schon längst gefrühstückt, wenn Lydia erschien.
Sie ließ Pritchard kommen, um die Tischordnung mit ihm zu besprechen. Pritchard teilte ihr mit, daß Alex bis auf weiteren Bescheid all seine Mahlzeiten auf seinem Zimmer einnehmen werde. Das änderte nur wenig an der Tischordnung, denn sie hatten ohnehin zu viele Männer, und in der gegenwärtigen Lage war es wohl kaum angebracht, nur der perfekten Sitzordnung wegen noch weitere Leute einzuladen. Sie schickte Pritchard wieder fort.
Wo hat Charlotte Felix gesehen? Und warum ist sie so zuversichtlich? Hat sie ihm ein Versteck gezeigt? Hat er sich vielleicht verkleidet?
Sie ging im Zimmer umher, blickte auf die Gemälde, die kleinen Bronzestatuen, die Glasornamente, den Schreibtisch. Kopfschmerzen plagten sie. Sie schickte sich an, die Blumen in einer großen Vase beim Fenster zu arrangieren und stieß die Vase um. Sie klingelte nach einem Diener, befahl ihm, den Schaden wieder zu richten, und verließ das Zimmer.
Ihre Nerven waren wieder einmal in einem entsetzlichen Zustand. Sollte sie ein wenig Laudanum nehmen? Es half in letzter Zeit längst nicht mehr sowie früher.
Was wird Charlotte jetzt tun? Wird sie das Geheimnis bewahren? Warum vertraut sich das Kind mir nicht an?
Sie ging in die Bibliothek, wollte sich ein Buch holen, um sich von ihren Gedanken abzulenken. Als sie eintrat, zuckte sie zusammen, denn Stephen saß dort an seinem Schreibtisch. Er lächelte ihr zu, fuhr aber gleich wieder mit seiner Arbeit fort.
Lydia ging an den Bücherregalen entlang. Sollte sie die Bibel lesen? In ihrer Kindheit hatte es viel Bibellektüre, Familiengebete und Kirchgänge gegeben. Sie hatte strenge Kinderfrauen gehabt, die ständig von den Schrecken der Hölle und den Bestrafungen für Unreinheit sprachen, und eine deutsch-lutherische Gouvernante, die viel von der Sünde redete. Aber seit Lydia die Sünde der Unzucht auf sich geladen hatte, war sie nie mehr fähig gewesen, Trost in der Religion zu finden. Ich hätte damals ins Kloster gehen sollen, dachte sie. Mein Vater hatte damals die richtige Eingebung. Sie nahm irgendein Buch aus dem Regal, setzte sich und legte es in ihren Schoß. Stephen sagte: »Deine Wahl ist aber sehr ungewöhnlich.« Von seinem Platz aus konnte er zwar den Titel nicht lesen, aber er wußte, wo in den Regalen die Werke der verschiedenen Autoren standen. Er las enorm viele Bücher, und Lydia fragte sich manchmal, wo er die Zeit dafür hernahm. Sie warf einen Blick auf den Rücken des Buches. Es waren die »Wessex-Gedichte« von Thomas Hardy. Sie mochte Hardy nicht, mochte weder jene entschlossenen, leidenschaftlichen Frauen, noch die starken Männer, die ihnen hilflos verfielen.
Sie und Stephen hatten oft so wie jetzt beisammengesessen, besonders ganz am Anfang ihrer Ehe in Waiden Hall. Er arbeitete, und ich saß ruhig dabei und las, erinnerte sie sich wehmütig. Er war in jenen Tagen weniger zuversichtlich gewesen und hatte oft gesagt, mit der Landwirtschaft könne niemand mehr Geld verdienen, es sei höchste Zeit, sich auf das zwanzigste Jahrhundert vorzubereiten, falls diese Familie den Ehrgeiz habe, weiterhin reich und mächtig zu sein. Er hatte damals einige Gutshöfe zu sehr niedrigem Preis verkauft, um den Erlös in Eisenbahnunternehmen, Banken und Grundbesitz in London zu investieren. Die Rechnung schien aufgegangen zu sein, denn schon bald gehörte sein besorgter Blick der Vergangenheit an. Vor allem nach Charlottes Geburt schien sich dann alles gefestigt zu haben. Die Dienerschaft war ganz vernarrt in das Baby und brachte Lydia, die es in die Welt gesetzt hatte, mehr Zuneigung entgegen. Zudem gewöhnte sich Lydia rasch an die englische Lebensart und machte sich in der Londoner Gesellschaft beliebt. Es waren achtzehn Jahre heiterer und ungestörter Ruhe gewesen.
Lydia seufzte. Diese Jahre waren jetzt vorbei. Eine Weile hatte sie ihr Geheimnis gut verborgen; nur sie allein empfand die Qualen, vermochte sie aber manchmal auch zu vergessen. Jetzt brachen sie wieder durch. Sie hatte geglaubt, London sei weit genug von St. Petersburg entfernt, aber vielleicht wäre Kalifornien eine bessere Wahl gewesen. Wie auch immer – die Zeit des Friedens war vorüber. Was
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