Der Mann Aus St. Petersburg: Roman
sollte jetzt geschehen?
Sie blickte in das offene Buch und las:
Die Welt hätt’ sie gegeben, um ehrlich ja zu sagen,
So sehr schien ihr sein Leben ganz auf sie gestellt,
Und dann belog sie ihn, im Herzen überzeugt,
Daß dieser Augenblick der Güte ihre Seel’ auf wog.
Ist das auf mich gemünzt? dachte sie. Habe ich meine Seele hergegeben, als ich Stephen heiratete, um Felix vor der Einkerkerung in der Peter-und-Pauls-Festung zu retten? Seitdem habe ich nur Theater gespielt und vorgetäuscht, ich sei keine liederliche, schamlose Hure. Und doch bin ich es! Aber ich bin nicht die einzige. Andere Frauen fühlen das gleiche. Warum würden sonst die Vicomtesse und Charlie Scott Schlafzimmer mit einer Verbindungstür verlangen? Und warum erzählt Lady Girard es mit einem Augenzwinkern, das doch nur ihr Einverständnis beweist? Wäre ich nur ein bißchen schamloser gewesen, so wäre Stephen wahrscheinlich öfter zu mir ins Bett gekommen, und wir hätten vielleicht einen Sohn. Sie seufzte erneut.
»Ich gebe dir einen Penny dafür«, sagte Stephen.
»Wofür?«
»Einen Penny für deine Gedanken.«
Lydia lächelte. »Ich werde niemals alle diese englischen Ausdrücke lernen. Den da kannte ich noch nicht.«
»Man hört nie auf zu lernen. Sag mir, an was du denkst.«
»Ich dachte daran, daß Waiden Hall einmal an Georges Sohn übergehen wird, wenn du stirbst.«
»Es sei denn, wir haben einen Sohn.«
Sie blickte ihn an, sah seine leuchtend blauen Augen und den sorgfältig geschnittenen grauen Bart. Er trug eine blaue Krawatte mit weißen Tupfen.
»Ist es zu spät?« fragte er.
»Ich weiß es nicht.« Sie dachte: Das hängt ganz davon ab, was Charlotte jetzt tun wird.
»Wir müssen es immer wieder versuchen«, sagte er.
Es war ein ungewöhnlich offenes Gespräch. Stephen mußte gespürt haben, daß es ihr in diesem Moment um ein paar klärende Worte ging. Sie stand von ihrem Sessel auf, ging auf ihn zu und stellte sich neben ihn. Seit wann hatte er diese kahle Stelle auf dem Hinterkopf? »Ja, wir müssen es versuchen.« Sie beugte sich über ihn, gab ihm einen Kuß auf die Stirn und küßte ihn dann spontan auf die Lippen. Er schloß die Augen.
Es dauerte nur einen kurzen Moment. Er blickte ein wenig verlegen drein, denn so etwas taten sie am Tage gewöhnlich nicht, weil sie immer die Dienerschaft um sich hatten. Sie fragte sich: Warum führen wir dieses Leben, wenn es uns nicht glücklich macht? Sie sagte: »Ich liebe dich wirklich.«
Er lächelte. »Ich weiß.«
Plötzlich hielt sie es nicht mehr aus. Sie sagte: »Ich muß mich jetzt zum Mittagessen umziehen, bevor Basil Thomson kommt.«
Er nickte.
Sie fühlte seine Blicke, als sie das Zimmer verließ. Während sie hinaufging, überlegte sie, ob ihr und Stephen noch eine Chance blieb, glücklich zu sein.
Sie ging in ihr Schlafzimmer; den Gedichtband hatte sie immer noch in der Hand. Sie legte ihn nieder. Charlotte allein besaß den Schlüssel zu ihrem Glück. Lydia mußte unbedingt mir ihr reden. Man kann auch die schwierigsten Dinge sagen, wenn man den Mut dazu aufbringt. Und was habe ich jetzt noch zu verlieren? Ohne sich zu überlegen, was sie im einzelnen sagen würde, begab sie sich zu Charlottes Zimmer im nächsten Stockwerk.
Ihre Schritte machten kein Geräusch auf dem Teppich. Sie erreichte den Treppenabsatz und warf einen Blick in den Flur. Sie sah Charlotte im alten Kinderzimmer verschwinden. Sie wollte sie rufen, hielt sich jedoch zurück. Was hatte Charlotte dort hineingetragen? Es sah wie ein Teller mit Sandwiches und ein Glas Milch aus.
Jetzt war Lydia neugierig und betrat Charlottes Schlafzimmer. Auf dem Tisch stand das Tablett, das das Mädchen eben heraufgebracht hatte. Der Schinken und das Brot waren verschwunden. Warum bestellte Charlotte ein Tablett mit Essen, machte dann Sandwiches und aß sie im Kinderzimmer? Soweit Lydia sich erinnerte, gab es im Kinderzimmer nur einige Möbel mit Staubschutzüberzügen. Hatte Charlotte eine solche Angst, daß sie sich in die heile Welt ihrer Kindheit zurückziehen wollte?
Lydia beschloß, sich Klarheit zu verschaffen. Es war ihr peinlich, Charlotte vielleicht bei irgendeinem geheimen Ritus zu stören. Aber dann sagte sie sich: Es ist mein Haus, sie ist meine Tochter, und ich sollte wissen, was hier vorgeht. Außerdem könnte es vielleicht einen Augenblick der Intimität schaffen und mir dabei helfen, ihr das zu sagen, was ich ihr sagen muß. So verließ sie Charlottes Schlafzimmer und ging
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