Der Mann Aus St. Petersburg: Roman
über den Korridor ins Kinderzimmer.
Charlotte war nicht dort.
Lydia blickte sich um. Sie bemerkte das alte Schaukelpferd, dessen Ohren sich unter der Plane abhoben. Durch eine offene Tür sah sie das Schulzimmer mit Landkarten und Kinderzeichnungen an den Wänden. Eine weitere Tür führte ins Schlafzimmer, das bis auf ein paar Planen leer war. Wird das alles je wieder benutzt werden? dachte sie.
Aber wo war Charlotte?
Die Schranktür stand offen. Und plötzlich erinnerte sich Lydia: Natürlich! Charlottes Versteck! Der kleine Raum, von dem sie glaubte, daß außer ihr niemand ihn kannte, in dem sie sich zu verkriechen pflegte, wenn sie unartig gewesen war. Sie hatte ihn selbst mit allerlei Kram aus dem Haus möbliert, und alle hatten sie glauben lassen, sie wüßten nicht, wie gewisse Dinge einfach verschwanden. Lydia hatte einmal in einem Anflug seltener Toleranz beschlossen, Charlotte ihr Versteck zu lassen und Marya zu verbieten, es zu »entdecken«. Denn auch Lydia versteckte sich ja manchmal im Blumenzimmer, und sie wußte, wie wichtig es war, ein Plätzchen ganz für sich allein zu haben.
Charlotte benutzte also immer noch diesen kleinen Raum! Lydia trat näher, sträubte sich immer mehr, Charlottes Privatleben zu stören, war aber sehr in Versuchung, es doch zu tun. Nein, sagte sie sich schließlich. Ich lasse sie in Ruhe.
Dann hörte sie Stimmen.
Sprach Charlotte mit sich selbst?
Lydia lauschte aufmerksam.
Ein Selbstgespräch auf russisch?
Plötzlich hörte sie eine andere Stimme, eine Männerstimme, die leise auf russisch antwortete; eine Stimme, die Lydia schaudern ließ.
Es war Felix.
Lydia fürchtete, die Besinnung zu verlieren. Felix! So nahe, daß sie ihn fast berühren könnte! Hier in Waiden Hall versteckt, während die Polizei die ganze Grafschaft nach ihm absuchte! Versteckt von Charlotte.
Ich darf nicht schreien!
Sie hielt sich die Hand vor den Mund und zitterte.
Ich muß fort von hier. Ich kann nicht mehr klar denken. Ich weiß nicht, was ich tun soll.
Ihr Kopf schmerzte entsetzlich. Ich brauche Laudanum, dachte sie. Die Aussicht darauf verlieh ihr etwas Kraft. Sie beherrschte ihr Zittern. Einen Augenblick später schlich sie sich auf Zehenspitzen aus dem Kinderzimmer.
Fast rennend eilte sie über den Flur, die Treppe hinunter, in ihr Zimmer. Das Laudanum stand auf dem Toilettentisch. Sie öffnete die Flasche. Der Löffel zitterte in ihrer Hand, und sie nahm einen Schluck direkt aus der Flasche. Wenig später begann sie sich ruhiger zu fühlen. Sie stellte Flasche und Löffel in die Schublade und schob sie zu. Ein Gefühl sanfter Zufriedenheit überkam sie, als ihre Nerven sich entspannten. Die Kopfschmerzen ließen nach. Jetzt war ihr für eine Weile alles mehr oder weniger egal. Sie trat an den Kl ei der schrank, öffnete die Tür, starrte auf die Reihen von Kleidern, konnte sich aber nicht entschließen, welches sie zum Mittagessen anziehen sollte.
Felix durchmaß das kleine Zimmer wie ein Tiger im Käfig, immer drei Schritte in jede Richtung, den Kopf gebeugt, um nicht an der Decke anzustoßen, während Charlotte zu ihm sprach.
»Alex’ Tür ist stets verschlossen«, sagte sie. »Drinnen und draußen befinden sich insgesamt drei bewaffnete Leibwächter. Die beiden im Zimmer schließen die Tür nur auf, wenn ihr Kollege draußen es ihnen sagt.«
Felix kratzte sich am Kopf und fluchte auf russisch. Schwierigkeiten, immer gibt es Schwierigkeiten. Jetzt bin ich hier im Haus, habe eine Komplizin aus der Familie, und trotzdem ist es nicht leicht. Warum habe ich nicht das Glück dieser Jungen in Sarajewo? Warum muß ich auch ausgerechnet zu dieser Familie gehören? Er blickte Charlotte an und korrigierte sich in Gedanken: Im Grunde bedauere ich es nicht.
Sie sah seinen Blick und fragte: »Ist was?«
»Nichts. Was immer auch geschieht, ich bin froh, dich gefunden zu haben.«
»Ich auch. Aber was haben Sie mit Alex vor?«
»Könntest du mir einen Plan des Hauses aufzeichnen?«
Charlotte schnitt ein Gesicht. »Ich kann es versuchen.«
»Du kannst es bestimmt, du hast dein Leben lang hier gewohnt.«
»Diesen Teil hier kenne ich natürlich – aber es gibt Räume in diesem Haus, in denen ich noch nie gewesen bin. Das Schlafzimmer des Butlers, die Wohnung der Haushälterin, die Kellerräume, all die Speisekammern über den Küchen …«
»Tu dein Bestes. Einen Plan für jedes Stockwerk.«
Sie fand einen Bogen Papier und einen Bleistift unter den Schätzen ihrer Kinderzeit
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