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Der Mann Aus St. Petersburg: Roman

Der Mann Aus St. Petersburg: Roman

Titel: Der Mann Aus St. Petersburg: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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ging ins Haus.
    Sie begegnete Charlotte in der Halle. Charlotte war überrascht, sie zu sehen. »Guten Morgen, Mama«, sagte sie. »Ich wußte gar nicht, daß du kommen wolltest.«
    »Es wurde mir zu langweilig in der Stadt«, antwortete Lydia mechanisch.
    »Wie bist du hierhergekommen?«
    »Ich habe mir Onkel Georges Wagen ausgeliehen.« Lydia bemerkte, daß Charlotte in einem unverbindlichen Plauderton sprach, mit ihren Gedanken jedoch ganz woanders war.
    »Du mußt sehr früh abgefahren sein«, sagte Charlotte.
    »Ja.« Lydia hätte am liebsten gesagt: Hör doch endlich auf! Machen wir uns nichts vor! Warum können wir uns nicht die Wahrheit sagen? Aber sie brachte es nicht über sich.
    »Sind all diese Polizisten schon fort?« fragte Charlotte. Sie blickte Lydia seltsam an, als sähe sie sie zum erstenmal. Lydia fühlte sich unbehaglich. Ich wünschte, ich könnte die Gedanken meiner Tochter lesen, dachte sie.
    Sie antwortete: »Ja, sie sind alle fort.«
    »Großartig.«
    Das war einer der Lieblingsausdrücke Stephens -großartig. Charlotte hatte also doch etwas von Stephen: die Wißbegier, die Entschlossenheit, die Haltung – und da sie das alles nicht geerbt hatte, mußte sie es sich angeeignet haben, indem sie ihn nachahmte … Lydia sagte: »Hoffentlich fangen sie diesen Anarchisten«, denn sie wollte Charlottes Reaktion sehen.
    »Das werden sie ganz bestimmt«, erwiderte Charlotte vergnügt.
    Wie ihre Augen leuchten, registrierte Lydia. Wie kann sie so fröhlich sein, wenn Hunderte von Polizisten die Gegend nach Felix durchsuchen? Warum ist sie nicht niedergeschlagen und voller Angst, wie ich es bin? Sie muß aus irgendeinem Grund annehmen, daß er in Sicherheit ist.
    Charlotte sagte: »Sag mir, Mama, wie lange braucht ein Baby, bis es geboren ist?«
    Lydia wurde bleich und starrte sie mit offenem Mund an. Sie weiß es! Sie weiß es!
    Charlotte lächelte und nickte, dann sagte sie mit leicht betrübter Miene: »Laß nur. Du hast mir meine Frage bereits beantwortet.« Dann ging sie die Treppe hinauf.
    Lydia hielt sich, von einer plötzlichen Schwäche überkommen, am Geländer fest. Felix hatte es Charlotte gesagt. Das war grausam von ihm, nach all den Jahren. Sie war wütend. Wie konnte er einem Kind das antun? Alles drehte sich vor ihren Augen. Sie hörte die Stimme einer Dienerin:
    »Ist Ihnen nicht wohl, gnädige Frau?«
    Ihr Kopf wurde wieder klarer. »Die Reise hat mich ein bißchen ermüdet«, sagte sie. »Nehmen Sie meinen Arm.«
    Die Dienerin führte sie auf ihr Zimmer. Eine Zofe war bereits dabei, Lydias Koffer auszupacken. Im Ankleidezimmer hatte man heißes Wasser für sie bereitgestellt. Lydia setzte sich. »Lassen Sie mich jetzt bitte allein«, sagte sie.
    »Sie können später auspacken.«
    Die Mädchen gingen hinaus. Lydia knöpfte sich den Mantel auf, hatte jedoch nicht die Kraft, ihn auszuziehen. Sie dachte an Charlottes seltsame Stimmung – fast ausgelassen, obgleich sie offensichtlich mit allerlei Gedanken beschäftigt war. Das begriff Lydia nur zu gut, denn sie hatte es selbst erlebt. Es ist die Stimmung, in die man gerät, wenn man eine Zeitlang mit Felix verbracht hat. Man fühlt, daß das Leben faszinierend und voller Überraschungen ist, daß es wichtige Dinge zu tun gibt, daß die Welt in bunten Farben erstrahlt, voller Leidenschaft und ständiger Veränderung unterworfen ist. Charlotte hatte Felix gesehen und glaubte ihn in Sicherheit.
    Lydia fragte sich angsterfüllt: Was soll ich tun?
    Endlich schlüpfte sie aus den Kleidern. Sie wusch sich ausgiebig, zog sich wieder an und nahm die Gelegenheit wahr, sich etwas zu beruhigen. Sie überlegte, was Charlotte wohl fühlte, da sie nun wußte, daß Felix ihr Vater war. Offenbar mochte sie ihn sehr.
    Lydia beschloß, sich zunächst um den Haushalt zu kümmern. Sie blickte in den Spiegel, bemühte sich um einen gefaßten Blick und ging hinaus. Auf dem Weg nach unten begegnete sie einer Dienerin, die ein Tablett mit Schinken, Rührei, frischem Brot, Milch, Kaffee und Weintrauben trug. »Für wen ist das?« fragte sie.
    »Für Lady Charlotte, gnädige Frau«, antwortete das Mädchen.
    Lydia ging weiter. War Charlotte nicht einmal der Appetit vergangen? Sie trat ins Morgenzimmer und ließ die Köchin rufen. Mrs. Rowse war eine hagere, nervöse Frau, die nie die von ihr für die Herrschaften zubereiteten Speisen zu sich zu nehmen schien. Sie sagte: »Wie ich höre, wird Mr. Thomson zum Mittagessen kommen, gnädige Frau, und Mr. Churchill

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