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Der Mann Aus St. Petersburg: Roman

Der Mann Aus St. Petersburg: Roman

Titel: Der Mann Aus St. Petersburg: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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Einsicht. Sie sagte: »Wenn Sie mir erzählt hätten, ich sei eigentlich ein Junge und meine Mutter habe mich immer nur wie ein Mädchen gekleidet … käme es mir genauso vor.«
    Sie dachte nach: Mama … und Felix? Wieder mußte sie erröten. Felix nahm ihre Hand und streichelte sie. Er sagte:
    »Ich nehme an, daß ich all die Liebe und Fürsorge, die ein Mann normalerweise seiner Frau und seinen Kindern schenkt, auf die Politik verwandt habe. Deshalb muß ich unbedingt versuchen, mich Orlows zu bemächtigen -wenn es auch fast unmöglich ist. Genauso wie ein Mann versuchen würde, sein Kind vor dem Ertrinken zu retten auch, wenn er selbst nicht schwimmen könnte.«
    Charlotte wußte mit einem Male, wie verwirrt Felix sich ihr gegenüber fühlen mußte, der Tochter, die er kaum kannte. Jetzt verstand sie auch, warum er sie manchmal so seltsam und traurig angeschaut hatte.
    »Sie armer Mann«, sagte sie.
    Er biß sich auf die Lippe. »Du hast ein so großmütiges Herz.«
    Warum sagte er ihr das? Sie wußte es nicht. »Was sollen wir tun?«
    Er atmete tief. »Könntest du mich ins Haus bringen und dort verstecken?«
    Sie dachte einen Augenblick nach. »Ja«, sagte sie.

    Er stieg hinter ihr aufs Pferd. Das Tier schüttelte die Mähne und schnaufte, als ob es die doppelte Last als Zumutung empfand. Charlotte brachte es in Trab. Zuerst folgte sie ein Stück dem Reitweg, dann bog sie ab und ritt durch den Wald. Sie kamen durch ein Tor, über eine Weide, dann auf einen kleinen Weg. Felix sah das Haus noch nicht, merkte aber, daß sie einen Bogen darum machte, um sich ihm dann von der nördlichen Seite zu nähern.
    Sie war ein erstaunliches Kind. Entschlossen und willensstark. Hat sie das von mir geerbt? Der Gedanke gefiel ihm. Er war froh, ihr die Wahrheit über ihre Abstammung gesagt zu haben. Sie hatte es noch nicht ganz akzeptiert, aber das war nur eine Frage der Zeit. Sie hatte ihm zugehört, als er ihre Welt auf den Kopf stellte, und sie hatte darauf bewegt reagiert, aber ohne Hysterie – wie ihre Mutter es getan hätte.
    Von dem Weg bogen sie in einen Obstgarten ein. Jetzt konnte Felix zwischen den Baumkronen die Dächer von Waiden Hall erkennen. Der Obstgarten endete an einer Mauer. Charlotte hielt das Pferd an und sagte: »Von hier aus gehen Sie am besten neben mir. Falls jemand aus dem Fenster schaut, sind Sie dann nicht so leicht zu sehen.«
    Felix sprang ab. Sie gingen an der Mauer entlang und folgten ihr bis zu einer Ecke. »Was ist hinter der Mauer?« fragte Felix.
    »Der Gemüsegarten. Bitte ganz still jetzt.«
    »Du bist wunderbar«, flüsterte Felix, aber sie hörte es nicht.
    An der nächsten Ecke blieben sie stehen. Felix erblickte einige niedrige Gebäude und einen Hof. »Die Stallungen«, erklärte Charlotte leise. »Warten Sie hier einen Augenblick. Wenn ich Ihnen ein Zeichen gebe, folgen Sie mir so rasch wie möglich.«
    »Wohin gehen wir?«
    »Über die Dächer.«
    Sie ritt in den Hof, stieg ab und hängte die Zügel über einen Zaun. Felix sah, wie sie über den Hof ging, sich nach allen Seiten umblickte und dann zurückkam und in die Ställe schaute.
    Er hörte sie sagen: »Ach, guten Morgen, Peter.«
    Ein etwa zwölfjähriger Junge kam heraus und nahm seine Mütze ab. »Guten Morgen, gnädiges Fräulein.«
    Felix fragte sich: Wie wird sie ihn los?
    Charlotte sagte: »Wo ist Daniel?«
    »Beim Frühstück, gnädiges Fräulein.«
    »Dann geh bitte und hole ihn; sag ihm, er möchte Spats absatteln.«
    »Das kann ich auch machen, gnädiges Fräulein.«
    »Nein, Daniel soll es tun«, sagte Charlotte gebieterisch.
    »Nun geh schon.«
    Großartig, dachte Felix.
    Der Junge rannte davon. Charlotte winkte. Felix rannte zu ihr hinüber.
    Sie sprang auf einen niedrigen Eisenbehälter, kletterte dann auf das Wellblechdach eines Schuppens und stieg von dort auf das Schieferdach eines einstöckigen Gebäudes.
    Felix folgte.
    Sie krochen auf allen vieren über das Schieferdach, bis sie an eine Ziegelmauer gelangten, von dort kletterten sie den Schräghang hinauf bis zur Giebelspitze.
    Felix fühlte sich unbehaglich. Charlotte richtete sich auf und lugte durch ein Giebelfenster.
    Felix flüsterte: »Was ist da drin?«
    »Eine Dienstmädchenkammer. Aber sie sind jetzt unten und decken den Frühstückstisch.«
    Sie kletterte auf den Fenstersims. Die Schlafkammer lag genau über dem obersten Dachfirst. Charlotte kroch über den Sims und stieg von dort rittlings auf den First.
    Es sah gefährlich aus. Felix hatte

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