Der Mann Aus St. Petersburg: Roman
und kniete sich vor den kleinen Tisch.
Felix aß noch ein Sandwich und trank die Milch. Es hatte lange gedauert, bis sie ihm das Essen bringen konnte, denn die Mädchen hatten im Korridor sauber gemacht. Während er aß, schaute er ihr zu, wie sie die Stirn runzelte und an ihrem Bleistift kaute. Einmal unterbrach sie sich und sagte: »Wie schwierig es ist, merkt man erst, wenn man es versucht.«
Sie fand einen Radiergummi unter ihren alten Bleistiften und benutzte ihn häufig. Felix bemerkte, daß sie ohne Lineal völlig gerade Linien zeichnen konnte. Er fand ihren Anblick rührend. So muß sie jahrelang im Schulzimmer gesessen haben, dachte er, und zuerst hat sie Häuser gezeichnet, dann Mama und Papa, später die Karte Europas, die Blätter der Bäume Englands, den Park im Winter … Waiden muß sie oft so gesehen haben.
»Warum hast du dich umgezogen?« fragte Felix.
»Ach, hier muß man sich ständig umziehen. Für jede Stunde des Tages gibt es eine angemessene Kleidung. Beim Abendessen muß man die nackten Schultern zeigen, aber beim Lunch darf man es nicht. Beim Dinner muß man ein Korsett tragen, nicht aber beim Tee. Draußen kann man keine Hauskleider tragen. Wollstrümpfe sind in der Bibliothek gestattet, aber nicht im Salon. Sie können sich nicht vorstellen, an was ich mich alles erinnern muß.«
Er nickte. Die Erscheinungsformen der Degeneration in der herrschenden Klasse konnten ihn nun nicht mehr überraschen.
Sie reichte ihm ihre Skizzen, und er wurde sogleich wieder sehr sachlich. Er schaute sie sich genau an. »Wo werden die Waffen aufbewahrt?« fragte er.
Sie berührte seinen Arm. »Seien Sie nicht so barsch«, sagte sie. »Ich bin schließlich auf Ihrer Seite – haben Sie das schon vergessen?«
Plötzlich war sie wieder erwachsen. Felix lächelte reumütig. »Ich hatte es vergessen«, sagte er.
»Die Waffen werden im Waffenzimmer aufbewahrt.«
Sie zeigte es ihm auf dem Plan. »Sie hatten also wirklich eine Liebesaffäre mit Mama?«
»Ja.«
»Ich kann mir nur so schwer vorstellen, daß sie so etwas tun würde.«
»Sie war damals sehr wild. Sie ist es immer noch, wenn sie es auch verbirgt.«
»Glauben Sie das wirklich?«
»Ich weiß es.«
»Alles, aber wirklich alles erweist sich plötzlich als ganz anders, als ich glaubte.«
»Das ist so, wenn man erwachsen wird.«
Sie wurde nachdenklich. »Wie soll ich Sie nun eigentlich nennen?«
»Wie meinst du das?«
»Es käme mir komisch vor, Sie Vater zu nennen.«
»Felix genügt vorläufig. Und du könntest mich duzen. Du brauchst Zeit, dich an den Gedanken zu gewöhnen, daß ich dein Vater bin.«
»Werde ich die Zeit haben?«
Ihr junges Gesicht war so ernsthaft, daß er ihre Hand ergriff. »Warum denn nicht?«
»Was … wirst du tun, wenn du Alex in deiner Gewalt hast?«
Er blickte fort, damit sie nicht das Schuldbewußtsein in seinen Augen sah. »Das hängt ganz davon ab, wie und wann ich ihn entführe, aber höchstwahrscheinlich werde ich ihn hier oben gefesselt halten. Du wirst uns Essen bringen müssen und meinen Freunden in Genf ein chiffriertes Telegramm schicken, um sie über das Geschehene zu informieren. Und dann, wenn die Verbreitung der Nachricht uns den gewünschten Erfolg gebracht hat, lassen wir Orlow wieder frei.«
»Und dann?«
»Man wird mich in London suchen, und ich werde mich irgendwo im Norden Englands verstecken. Es gibt dort ein paar größere Städte wie Birmingham, Manchester oder Hull, in denen ich untertauchen kann. Und einige Wochen später fahre ich wieder in die Schweiz zurück und von dort nach St. Petersburg – denn das ist der Ort, wo die Revolution beginnen wird.«
»Ich werde dich also nie mehr wiedersehen.«
Das wirst du auch nicht wollen, dachte er und erwiderte:
»Warum nicht? Ich könnte eines Tages nach London zurückkehren. Oder du könntest nach St. Petersburg kommen. Oder wir könnten uns in Paris treffen. Wer weiß? Wenn es so etwas wie das Schicksal gibt, wird es uns bestimmt wieder zusammenbringen.« Wenn ich nur selbst daran glauben könnte!
»Das ist wahr«, sagte sie mit einem traurigen Lächeln, und er sah, daß auch sie es nicht glaubte. Sie stand auf.
»Jetzt muß ich dir ein bißchen Wasser bringen, damit du dich waschen kannst.«
»Laß nur. Ich bin schon viel schmutziger gewesen, und es macht mir wirklich nichts aus.«
»Aber mir. Du stinkst entsetzlich. Ich bin gleich wieder zurück.« Und damit entfernte sie sich.
Waiden hatte seit Jahren kein so trübseliges
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