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Der Mann Aus St. Petersburg: Roman

Der Mann Aus St. Petersburg: Roman

Titel: Der Mann Aus St. Petersburg: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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Mittagessen erlebt. Lydia befand sich in einer Art Dämmerzustand. Charlotte war still, aber ungewöhnlich nervös, ließ ihr Besteck zu Boden fallen und stieß ihr Glas um. Thomson hüllte sich in Schweigen. Sir Arthur Langley bemühte sich, gesellig zu sein, aber niemand ging darauf ein. Waiden war in seine Gedanken vertieft, er rätselte, wie Felix herausgefunden haben konnte, daß Alex in Waiden Hall war. Er quälte sich mit dem häßlichen Verdacht, Lydia könne etwas damit zu tun haben. Hatte sie Felix nicht verraten, daß Alex im Savoy-Hotel war, und hatte sie nicht zugegeben, Felix sei ihr aus der St. Petersburger Zeit bekannt vorgekommen? Könnte es sein, daß Felix auf irgendeine Art Druck auf sie ausübte? Den ganzen Sommer hatte sie sich höchst seltsam benommen, schien verstört und geistesabwesend. Und jetzt, wo er zum erstenmal seit neunzehn Jahren ganz unvoreingenommen über Lydia nachdachte, mußte er sich eingestehen, daß sie in sexueller Hinsicht »lauwarm« war. Natürlich erwartete man von wohlerzogenen Frauen nichts anderes, aber er wußte genau, daß derlei Annahmen fast nie der Wirklichkeit entsprachen und Frauen die gleichen Sehnsüchte hatten wie Männer. Sehnte sich Lydia nach jemand anderem, nach jemandem aus ihrer Vergangenheit? Das würde vieles erklären, was bis jetzt nie einer Erklärung bedurft zu haben schien.
    Nach dem Mittagessen kehrte Sir Arthur in das Achteckzimmer, in dem er sein Hauptquartier aufgeschlagen hatte, zurück. Waiden und Thomson setzten sich ihre Hüte auf, nahmen ihre Zigarren und begaben sich auf die Terrasse. Wie immer sah der Park im Sonnenlicht herrlich aus. Aus dem entfernten Salon ertönten die donnernden Eröffnungsakkorde des Klavierkonzerts von Tschaikowsky. Lydia saß am Flügel. Waiden fühlte sich traurig. Dann wurde die Musik von dem Lärm eines Motorrades gestört; ein Bote kam, um Sir Arthur über die Fortschritte der Suchaktion zu berichten: Bisher gab es keine Ergebnisse.
    Ein Lakai servierte den Kaffee und ließ sie dann allein. Thomson sagte: »Ich wollte es in Gegenwart von Lady Waiden nicht erwähnen, aber ich glaube, wir sind der Identität des Verräters auf der Spur.«
    Waiden erstarrte.
    Thomson fuhr fort: »Gestern abend verhörte ich Bridget Callahan, die Zimmervermieterin in der Cork Street. Leider habe ich von ihr nichts erfahren. Ich ließ jedoch meine Leute bei ihr eine Haussuchung vornehmen. Heute früh zeigten sie mir, was sie dabei gefunden haben.« Er zog einen in der Mitte durchgerissenen Briefumschlag aus seiner Tasche und reichte ihn Waiden.
    Waiden sah zu seinem Entsetzen, daß der Umschlag das Wappen von Waiden Hall trug.
    Thomson fragte: »Erkennen Sie die Handschrift?«
    Waiden legte die Stücke zusammen und schaute auf die Adresse. Sie lautete:
    Mr. F. Kschessinsky c/o 19 Cork Street London, N.
    Waiden rief aus: »Nein, das darf nicht wahr sein, nicht Charlotte!« Er war dem Weinen nahe.
    Thomson schwieg.
    »Sie hat ihn hierhergeführt«, sagte Waiden. »Meine eigene Tochter.« Er starrte auf den Umschlag. Die Handschrift war eindeutig. »Schauen Sie sich einmal den Poststempel an«, sagte Thomson. »Sie hat den Brief gleich am Tage ihrer Ankunft geschrieben. Er wurde im Dorf aufgegeben.«
    »Wie konnte das geschehen?« fragte Waiden.
    Thomson antwortete nicht.
    »Felix war also der Mann mit der Tweedmütze«, fuhr Waiden fort. »Es paßt alles zusammen.« Er fühlte sich sehr traurig, fast wie wenn eine geliebte Person gestorben wäre. Er blickte auf seinen Park, auf die Bäume, die sein Vater vor fünfzig Jahren hatte pflanzen lassen, auf den Rasen, den seine Familie seit hundert Jahren gepflegt hatte, und alles schien ihm jetzt wertlos. Er sagte mir ruhiger Stimme:
    »Man kämpft für sein Land und wird von innen her von Sozialisten und Revolutionären verraten; man kämpft für seine Klasse und wird von den Liberalen verraten; man kämpft für seine Familie und wird sogar von ihr verraten. Charlotte! Warum, Charlotte, warum?« Es schnürte ihm die Kehle zu. »Wie abscheulich das Leben doch ist, Thomson. Wie abscheulich!«
    »Ich werde sie verhören müssen«, sagte Thomson.
    »Und ich auch.« Waiden stand auf. Er schaute auf seine Zigarre. Sie war ausgegangen. Er warf sie fort. »Gehen wir hinein.«
    Sie traten wieder ins Haus. In der Halle hielt Waiden ein Dienstmädchen an.
    »Wissen Sie, wo Lady Charlotte ist?«
    »Ich glaube, sie ist auf ihrem Zimmer, Eure Lordschaft. Soll ich einmal nachsehen?«
    »Ja, bitte.

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