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Der Mann Aus St. Petersburg: Roman

Der Mann Aus St. Petersburg: Roman

Titel: Der Mann Aus St. Petersburg: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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so vertraut, als hätte er es erst gestern gesehen und nicht vor neunzehn Jahren. Ihre Augen waren vor Schrecken geweitet, und ihr kleiner roter Mund stand offen.
    Lydia.
    Er stand an der Tür des Wagens, den Mund unter dem Schal – geöffnet, den Revolver ins Leere gerichtet, und dachte fassungslos: Meine Lydia – hier in diesem Wagen …!
    Während er sie anstarrte, war er sich halb bewußt, daß Waiden sich links neben ihm langsam bewegte. Aber Felix vermochte nur noch an eins zu denken: Genauso, mit geweiteten Augen und offenem Mund, sah sie aus, als sie nackt unter mir lag, die Beine um meine Hüften geschlungen, als sie mich anstarrte und dann vor Entzücken zu weinen begann.
    Zu spät sah er, daß Waiden ein Schwert gezogen hatte. Die Klinge blitzte im Licht der Laterne auf, als sie herunterfuhr, und Felix wich zu langsam aus, so daß das Schwert ihm in die rechte Hand drang; er ließ die Waffe fallen, sie schlug klirrend auf der Straße auf und ging im gleichen Augenblick los.
    Der Knall zerbrach den Zauber.
    Waiden zog das Schwert zurück und zielte auf Felix’ Herz. Die Schwertspitze drang ihm durch Mantel und Jacke und blieb in seiner Schulter stecken. Er sprang instinktiv zurück, und das Schwert kam heraus. Er fühlte das feuchte, warme Blut in seinem Hemd.
    Entsetzt starrte er auf die Straße, suchte seinen Revolver – vergeblich. Er blickte wieder auf, sah Waiden und Orlow sich gemeinsam aus der engen Wagentür zwängen. Sein rechter Arm hing schlaff herunter. Er wurde sich bewußt, daß er unbewaffnet und hilflos war. Er konnte Orlow nicht einmal erwürgen, denn dazu brauchte er beide Arme. Er hatte völlig versagt, und das alles wegen der Stimme einer Frau aus seiner Vergangenheit.
    Ausgerechnet jetzt, dachte er verbittert – ausgerechnet jetzt. In Panik wandte er sich ab und rannte davon.
    »Verdammter Strolch!« rief Waiden ihm nach.
    Bei jedem Schritt fühlte Felix den Schmerz seiner Wunden. Er hörte Schritte hinter sich. Sie waren zu leicht, um zu Waiden zu gehören. Orlow jagte ihm nach. Er kicherte hysterisch und flüsterte heiser: »Orlow jagt mir nach – und ich laufe ihm davon!«
    Mit einem Satz war er von der Straße und lief in die Büsche. Er hörte Waiden rufen: »Alex, komm zurück, er hat einen Revolver!« Sie wissen nicht, daß ich ihn fallengelassen habe, durchzuckte es Felix. Wenn ich ihn noch hätte, könnte ich Orlow jetzt erschießen. Er rannte ein kleines Stück weiter, blieb dann stehen und lauschte. Er hörte nichts. Orlow hatte aufgegeben.
    Er lehnte sich an einen Baum. Der kurze Lauf hatte ihn erschöpft. Als er wieder bei Atem war, zog er sich den Mantel und die gestohlene Livreejacke aus und betastete behutsam seine Wunden. Sie schmerzten teuflisch, was seiner Meinung nach ein gutes Zeichen war, denn wirklich gefährliche Verletzungen waren eher gefühllos. Seine Schulter blutete schwach und schmerzte pochend. Die Hand war zwischen Daumen und Zeigefinger aufgeschnitten und blutete stark.
    Er mußte aus dem Park entkommen, bevor Waiden Zeit hatte, Alarm zu schlagen.
    Mit Mühe gelang es ihm, sich den Mantel wieder anzuziehen. Die Livreejacke ließ er am Boden liegen. Er drückte sich die rechte Hand unter den linken Arm, um den Schmerz zu stillen und das Bluten aufzuhalten. Dann schleppte er sich müde wieder in Richtung Mal. Lydia.
    Zum zweitenmal in seinem Leben hatte sie eine Katastrophe hervorgerufen. Das erste Mal war 1895 in St. Petersburg gewesen …
    Nein. Er durfte jetzt nicht an sie denken, noch nicht. Er mußte einen klaren Kopf behalten.
    Erleichtert stellte er fest, daß sein Fahrrad noch immer da war, wo er es gelassen hatte, unter den herabhängenden Zweigen eines großen Baums. Er schob es über den Rasen bis zum Rand des Parks. Hatte Waiden bereits die Polizei alarmiert? War man schon auf der Suche nach einem großen Mann in einem dunklen Mantel? Er blickte auf die Mall hinaus. Die Lakaien rannten noch immer, Motoren heulten auf, Wagen manövrierten. Wie lange war es her, seit er auf den Waidenschen Wagen geklettert war? Zwanzig Minuten? Lange genug, um die Welt über ihm zusammenstürzen zu lassen.
    Er atmete tief durch und schob das Fahrrad auf die Straße. Niemand nahm von ihm Notiz, alle Passanten waren zu sehr beschäftigt. Er hielt die rechte Hand in der Manteltasche und stieg auf. Dann stieß er sich ab und begann, in die Pedale zu treten; er steuerte mit der linken Hand.
    Überall um den Palast herum waren Polizisten. Wenn Waiden sie schnell

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