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Der Mann Aus St. Petersburg: Roman

Der Mann Aus St. Petersburg: Roman

Titel: Der Mann Aus St. Petersburg: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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meins ruiniert«, erwiderte er, und dann runzelte er die Stirn, als habe er sich selbst überrascht.
    »Oh, Felix, das wollte ich nicht.«
    Er versteifte sich plötzlich. Sie schwiegen. Er setzte wieder sein verletztes Lächeln auf und sagte: »Was geschah damals?«
    Sie zögerte. Jetzt merkte sie, daß sie sich in all den Jahren gesehnt hatte, es ihm zu erklären. Sie begann: »An jenem Abend, als du mir das Kleid zerrissen hattest .«

    »Was wirst du mit dem Riß in deinem Kleid tun?« fragte Felix. »Die Zofe wird es mir nähen, bevor ich in der Gesandtschaft ankomme«, erwiderte Lydia.
    »Deine Zofe hat Nadel und Faden bei sich?«
    »Wozu nimmt man sonst seine Zofe mit, wenn man zum Abendessen ausgeht?«
    »Ja, warum?« Er lag auf dem Bett und sah ihr zu, wie sie sich ankleidete. Sie wußte, daß er ihr gern beim Ankleiden zuschaute; einmal hatte er ihr vorgemacht, wie sie sich den Schlüpfer überstreifte, und sie hatte gelacht, bis ihr der Bauch weh tat.
    Sie nahm ihm das Kleid ab und zog es an. »Die meisten Mädchen brauchen eine Stunde, um sich für den Abend umzuziehen«, sagte sie. »Bevor ich dich kannte, hatte ich keine Ahnung, daß man es auch in fünf Minuten machen kann. Knöpfe es mir zu.«
    Sie schaute in den Spiegel und richtete sich das Haar, während er die Häkchen an ihrem Rücken schloß. Als er fertig war, küßte er sie auf die Schulter. Sie beugte den Nacken. »Fang nicht schon wieder an«, sagte sie. Sie nahm das braune Cape und reichte es ihm.
    Er half ihr hinein und sagte: »Die Lichter gehen aus, wenn du fort bist.«
    Sie war gerührt. Er war nicht oft sentimental. Sie sagte:
    »Ich weiß, wie du dich fühlst.«
    »Wirst du morgen kommen?«
    »Ja.«
    An der Tür küßte sie ihn und sagte: »Ich danke dir.«
    »Ich liebe dich«, erwiderte er.
    Sie verließ ihn. Als sie die Treppe hinunterging, hörte sie ein Geräusch und drehte sich um. Felix’ Nachbar beobachtete sie aus der Tür der anliegenden Wohnung. Er sah verlegen aus, als er ihrem Blick begegnete. Sie nickte ihm höflich zu, und er zog sich zurück. Es fiel ihr ein, daß er wahrscheinlich ihre Liebesspiele durch die Wand belauscht hatte, aber es machte ihr nichts aus. Sie war sich bewußt, schändliche Dinge zu treiben, aber sie weigerte sich, darüber nachzudenken.
    Sie trat auf die Straße. Ihre Zofe wartete an der Ecke. Gemeinsam gingen sie in den Park, wo der Wagen stand. Es war ein kalter Abend, aber Lydia fühlte die Glut ihrer inneren Wärme. Oft fragte sie sich, ob die Leute es ihr ansahen, daß sie gerade geliebt hatte. Der Kutscher zog den Wagensteig für sie herunter und vermied ihren Blick. Er weiß es, schoß es ihr durch den Kopf, aber dann glaubte sie, es sei nur Einbildung gewesen.
    Im Wagen nähte ihr die Zofe hastig den Riß am Rücken zu, und Lydia vertauschte das braune Cape mit einem Pelzumhang. Die Zofe richtete ihr noch die Frisur. Lydia gab ihr zehn Rubel für ihr Schweigen. Dann kamen sie vor der Britischen Gesandtschaft an. Lydia gab sich einen Ruck und stieg aus dem Wagen.
    Sie fand es nicht besonders schwierig, sich umzustellen und wieder die bescheidene, jungfräuliche Lydia zu sein, als die sie in der Gesellschaft galt. Kaum war sie in diese andere Welt zurückgekehrt, erschrak sie über die brutale Macht ihrer Leidenschaft zu Felix. Sie zitterte plötzlich. Es war keine Verstellung. In den meisten Stunden des Tages hatte sie wirklich das Gefühl, ihrer wahren Natur nach das wohlanständige und gesittete Mädchen zu sein, und dann glaubte sie, sie sei von einer bösen Macht besessen, wenn sie mit Felix zusammen war. Aber wenn sie ihn besuchte, und auch, wenn sie mitten in der Nacht allein in ihrem Bett lag, war sie überzeugt, daß die offizielle und keusche Lydia schlecht und falsch sei, denn sie erlaubte ihr nicht die größte Freude, die sie je gekannt hatte.
    So trat sie in die Eingangshalle, in anmutiges Weiß gekleidet. Sie wirkte sehr jung und ein wenig nervös.
    Sie sah ihren Vetter Kiril, der heute abend ihr Kavalier sein sollte. Er war ein Witwer von etwas über dreißig, ein reizbarer Mann, der im Außenministerium arbeitete. Er und Lydia mochten sich nicht besonders, aber da seine Frau gestorben war und Lydias Eltern nicht gern ausgingen, hatten Kiril und Lydia dafür gesorgt, daß man sie gemeinsam einlud. Lydia hatte ihm immer gesagt, er brauche sich nicht die Mühe zu machen, sie abzuholen. Auf diese Weise konnte sie sich heimlich mit Felix treffen.
    »Du bist spät«, begrüßte

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