Der Mann Aus St. Petersburg: Roman
Stirn. »Ich glaube nicht, daß ich ihn kenne.«
»Der Herr sagte, es handle sich um eine dringliche Angelegenheit, gnädige Frau, und er schien anzunehmen, Sie würden sich von St. Petersburg her an ihn erinnern.« Pritchard machte ein zweifelndes Gesicht.
Lydia zögerte. Der Name kam ihr irgendwie bekannt vor. Von Zeit zu Zeit erschienen Russen bei ihr in London, die sie kaum gekannt hatte. Gewöhnlich erboten sie sich zuerst, ihren Verwandten daheim Nachrichten zu überbringen, und zum Schluß baten sie sie, ihnen das Geld für die Rückreise zu leihen. Es machte Lydia nichts aus, ihnen zu helfen. »Nun gut«, sagte sie. »Führen Sie ihn herein.«
Pritchard entfernte sich. Lydia tauchte noch einmal ihre Feder ein und schrieb: »Was kann man tun, wenn das Kind achtzehn Jahre alt ist und seinen eigenen Willen hat? Stephen meint, ich mache mir zu viele Sorgen. Ich wünschte .«
Ich kann nicht einmal mit Stephen richtig reden, fiel ihr auf. Er speist mich immer nur mit besänftigenden Phrasen ab.
Die Tür ging auf, und Pritchard verkündete: »Herr Konstantin Dmitritsch Levin.«
Lydia sprach über ihre Schulter auf englisch: »Einen kleinen Augenblick bitte, Mr. Levin.« Sie hörte den Butler die Tür schließen, und sie schrieb den Satz zu Ende: »… daß ich ihm glauben könnte.« Dann legte sie ihre Feder nieder und drehte sich um.
Er sprach auf russisch zu ihr. »Wie geht es dir, Lydia?«
Lydia flüsterte: »Oh, mein Gott.«
Es war ihr, als lege sich etwas Kaltes und Schweres auf ihr Herz, und sie konnte nicht atmen. Felix stand vor ihr, groß und schlank wie damals, in einer schäbigen Jacke, mit einem Schal und einem lächerlichen englischen Hut in der linken Hand. Er war ihr so vertraut, als hätte sie ihn erst gestern gesehen. Sein Haar war noch immer lang und schwarz, ohne jedes Grau. Sie betrachtete seine weiße Haut, die schmale, gebogene Nase, seinen breiten Mund und die traurigen, weichen Augen.
Er sagte: »Es tut mir leid, dich erschreckt zu haben.«
Lydia konnte nicht sprechen. Sie kämpfte mit einem Sturm gemischter Gefühle: Schock, Angst, Entzücken, Schrecken, Zuneigung und Abscheu. Sie starrte ihn an. Ja, er war älter geworden. Sein Gesicht zeigte Spuren: zwei scharfe Falten an den Wangen, abfallende Linien an den Mundwinkeln. Sie deuteten auf Schmerz und Entbehrungen hin. In seinem Ausdruck lag etwas, das sie früher nicht gekannt hatte – vielleicht Erbarmungslosigkeit oder Grausamkeit, vielleicht nur Unbeugsamkeit. Er sah müde aus.
Auch er blickte sie forschend an. »Du siehst noch wie ein Mädchen aus«, sagte er bewundernd.
Sie zwang sich, ihre Augen von ihm abzuwenden. Ihr Herz pochte bis zum Hals. Schrecken war das Gefühl, das sie beherrschte. Wenn Stephen frühzeitig zurückkehrt, überlegte sie blitzartig, wenn er jetzt in dieses Zimmer tritt, mit jenem fragenden Blick, und ich erröten und stammeln müßte .
»So sag doch etwas«, ließ Felix sich vernehmen.
Sie blickte ihn wieder an. Mit Mühe brachte sie hervor:
»Geh!«
»Nein.«
Plötzlich wußte sie, daß sie nicht die Willenskraft besaß, ihn fortzuschicken. Sie warf einen Blick auf die Klingel, mit der sie Pritchard rufen konnte. Felix lächelte, als wisse er, woran sie dachte. »Es ist neunzehn Jahre her«, sagte er.
»Du bist alt geworden« entfuhr es ihr.
»Auch du hast dich verändert.«
»Was hast du anderes erwartet?«
»Genau das«, sagte er. »Daß du Angst haben würdest, dir einzugestehen, wie glücklich du bist, mich wiederzusehen.«
Er hatte es schon immer vermocht, ihr mit seinen sanften Augen bis in die Tiefe der Seele zu sehen. Was hat es für einen Zweck, sich zu verstellen? Ihm kann man nichts vormachen, erinnerte sie sich. Schon bei unserer ersten Begegnung durchschaute er mich sofort. »Nun?« fragte er. »Bist du nicht glücklich?«
»Aber ich bin auch erschrocken«, erwiderte sie, und dann fiel ihr ein, daß sie zugegeben hatte, glücklich zu sein. »Und du?« fügte sie eilig hinzu. »Wie fühlst du dich?«
»Ich fühle so gut wie überhaupt nichts mehr«, sagte er. Sein Gesicht verzog sich zu einem seltsamen, schmerzhaften Lächeln. Auch das war etwas, das sie vorher nicht an ihm gekannt hatte. Sie fühlte instinktiv, daß er in diesem Augenblick die Wahrheit sprach. Er zog einen Stuhl heran und setzte sich ganz nahe zu ihr. Sie zuckte zurück. »Ich werde dir nicht weh tun«, sagte er.
»Mir weh tun?« Lydia lachte nervös auf. »Du wirst mein Leben ruinieren!«
»Du hast
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