Der Mann Aus St. Petersburg: Roman
der Tür und war in Tränen aufgelöst. Jetzt wußte Lydia, welcher Ärger auf sie zukam, und sie fühlte, wie sie zitterte. Es ging sofort los. Ihr Vater schrie sie an: »Du hast dich heimlich mit einem jungen Burschen getroffen!«
Lydia preßte die Arme zusammen, um das Zittern zu verbergen. »Wie hast du das herausgefunden?« fragte sie mit einem anklägerischen Blick auf die Zofe.
Ihr Vater knurrte angewidert. »Schau sie nicht an«, sagte er. »Der Kutscher hat mir von euren erstaunlich langen Spaziergängen im Park erzählt. Gestern ist dir jemand in meinem Auftrag gefolgt.« Dann brüllte er wieder. »Wie konntest du dich so aufführen – wie eine Bauernmagd?«
Wieviel wußte er? Bestimmt nicht alles! »Ich bin verliebt«, sagte Lydia.
»Verliebt?« schrie er. »Du meinst, du bist läufig!«
Lydia fürchtete, er werde sie schlagen. Sie trat einige Schritte zurück, bereit davonzulaufen. Er wußte alles. Eine totale Katastrophe. Was würde er tun?
Er sagte: »Das schlimmste ist, daß du ihn unmöglich heiraten kannst.«
Lydia war entsetzt. Sie war gefaßt, aus dem Haus geworfen zu werden, sie hätte erwartet, daß er sie enterben und demütigen würde, aber er hatte eine noch härtere Strafe im Sinn. »Warum kann ich ihn nicht heiraten?« rief sie verzweifelt.
»Weil er nichts Besseres als ein Leibeigener ist, und ein gefährlicher Anarchist dazu. Verstehst du denn nicht? Du wärst ruiniert!«
»Dann laß mich ihn heiraten und ruiniert sein!«
»Nein!« brüllte er.
Eine bedrohliche Stille trat ein, die immer noch weinende Zofe schniefte. Lydia hörte ein Dröhnen in den Ohren.
»Das wird deine Mutter umbringen«, sagte der Graf.
Lydia flüsterte: »Was wirst du tun?«
»Du wirst von jetzt an in deinem Zimmer bleiben. Sobald ich es einrichten kann, kommst du in ein Kloster.«
Lydia starrte ihn entsetzt an. Das war ein Todesurteil. Sie rannte aus dem Zimmer.
Felix nie wiedersehen – die Vorstellung war unerträglich. Tränen rannen ihr über das Gesicht. Sie eilte in ihr Schlafzimmer. Eine solche Strafe konnte sie unmöglich überleben. Ich werde sterben, dachte sie. Ich werde sterben.
Anstatt Felix für immer aufzugeben, würde sie lieber ihre Familie für immer verlassen. Kaum war ihr der Gedanke gekommen, da wußte sie bereits, daß es die einzige Lösung war – und sie mußte es jetzt tun, bevor ihr Vater jemanden schickte, um sie in ihrem Zimmer einzuschließen.
Sie schaute in ihre Geldbörse: Sie hatte nur noch ein paar Rubel. Sie öffnete ihren Juwelenkasten, entnahm ihm ein Diamantarmband, eine goldene Kette und einige Ringe und stopfte sie in ihre Börse. Sie zog sich ihren Mantel an und rannte die Treppe hinunter. Sie verließ das Haus durch den Dienstboteneingang.
Ziellos eilte sie durch die Straßen. Die Menschen starrten ihr nach. Es machte ihr nichts aus. Sie hatte der guten Gesellschaft endgültig den Rücken gekehrt. Sie würde mit Felix davonlaufen.
Sie war rasch erschöpft und mußte langsamer gehen. Plötzlich erschien ihr ihre Lage nicht mehr so katastrophal. Sie konnte mit Felix nach Moskau gehen oder in irgendeine Provinzstadt oder sogar ins Ausland, vielleicht nach Deutschland. Felix würde eine Arbeit finden müssen. Er war immerhin gebildet und konnte eine Stellung als Kanzleischreiber oder vielleicht sogar noch etwas Besseres bekommen. Sie selbst konnte Näharbeiten übernehmen. Sie würden sich ein kleines Haus mieten, es möblieren und bescheiden leben. Sie würden Kinder haben, kräftige Jungen und hübsche Mädchen. Was sie dafür aufzugeben hatte, schien ihr wertlos: seidene Kleider, Gesellschaftsklatsch, eine allgegenwärtige Dienerschaft, prächtige Häuser und raffinierte Speisen.
Wie würde das Leben mit ihm sein? Sie würden zu Bett gehen und richtig miteinander schlafen – wie romantisch! Sie würden Spazierengehen, sich bei den Händen halten und es nicht mehr nötig haben, ihre Verliebtheit zu verstecken. Am Abend würden sie am Kamin sitzen, Karten spielen, lesen oder sich unterhalten. Und sie könnte ihn jederzeit berühren, küssen oder sich für ihn ausziehen. Sie erreichte das Haus, in dem er wohnte, und stieg die Treppen hinauf. Wie würde er reagieren? Zuerst dürfte er wohl entsetzt sein, dann außer sich vor Freude, und dann würde er nachdenken. Er würde beschließen, daß sie sofort von hier weg müßten, denn ihr Vater könnte sie mit Gewalt zurückholen lassen. Er würde sehr entschlossen sein. »Wir fahren nach X«, würde er sagen
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