Der Mann Aus St. Petersburg: Roman
sie Kiril.
»Es tut mir leid«, antwortete sie unaufrichtig.
Kiril führte sie in den Salon. Sie wurden von dem Gesandten und seiner Gemahlin begrüßt und dann dem Vicomte von Waiden vorgestellt. Er war ein hochgewachsener gutaussehender Mann von etwa dreißig Jahren, in einem vorzüglich geschneiderten, aber ziemlich einfachen Anzug. Mit seinem hellbraunen Haar und den blauen Augen wirkte er sehr englisch. Lydia fand sein Lächeln und sein offenes Gesicht nicht ganz unattraktiv. Er sprach ein gutes Französisch. Sie plauderten eine Weile höflich miteinander, und dann wurde er anderen Leuten vorgestellt.
»Er scheint ganz nett zu sein«, bemerkte Lydia zu Kiril.
»Laß dich nicht täuschen«, erwiderte dieser. »Er soll ein wahrer Schwerenöter sein.«
»Das überrascht mich aber.«
»Er spielt Karten mit einigen Offizieren, die ich kenne; sie haben mir erzählt, er trinke sie in manchen Nächten unter den Tisch.«
»Du weißt so viel von den Leuten, und es ist immer etwas Schlechtes.«
Kirils dünne Lippen verzogen sich zu einem Lächeln.
»Ist es meine Schuld oder ihre?«
Lydia fragte: »Warum ist er hier?«
»In St. Petersburg? Ach, das ist eine ganz einfache Geschichte. Er hat einen sehr reichen und herrschsüchtigen Vater, mit dem er nicht gut auskommt, und daher reist er in der Welt umher, trinkt und spielt und wartet auf den Tod seines alten Herrn.«
Lydia erwartete nicht, mit Waiden noch einmal ins Gespräch zu kommen, aber die Frau des Gesandten wußte, daß sie beide unverheiratet waren, und setzte sie bei Tisch nebeneinander. Während des zweiten Gangs versuchte er, Konversation zu machen. »Kennen Sie zufällig den Finanzminister?« erkundigte er sich.
»Leider nicht«, erwiderte Lydia kühl. Natürlich wußte sie alles über diesen Mann, der ein großer Günstling des Zaren war, jedoch eine geschiedene Frau geheiratet hatte, die dazu noch Jüdin war. Deshalb wurde er nur selten eingeladen. Plötzlich fiel ihr ein, wie abschätzig Felix auf derartige Vorurteile reagierte, und dann richtete Waiden wieder das Wort an sie.
»Es würde mich sehr interessieren, ihn einmal kennenzulernen; er soll ein sehr energischer und weitsichtiger Mann sein. Sein Projekt der Transsibirischen Eisenbahn ist großartig. Aber man erzählt, er sei nicht gerade sehr vornehm.«
»Ich kann Ihnen versichern, dar Sergeij Julewitsch Witte ein treuer Diener unseres verehrten Herrschers ist«, erwiderte Lydia höflich.
»Gewiß«, sagte Waiden und wandte sich der anderen Dame an seiner Seite zu.
Ich scheine ihn zu langweilen, dachte Lydia.
Ein wenig später fragte sie ihn: »Reisen Sie viel?«
»Ich bin die meiste Zeit auf Reisen«, antwortete er. »Ich bin fast jedes Jahr in Afrika auf der Großwildjagd.«
»Wie faszinierend! Und was schießen Sie?«
»Löwen, Elefanten … einmal ein Rhinozeros.«
»Im Dschungel?«
»Die Jagd findet in den Steppen des Ostens statt, aber einmal bin ich bis zu den großen Wäldern im Süden gelangt, nur um sie mir anzusehen.«
»Ist es so, wie es in den Büchern beschrieben wird?«
»Ja, sogar einschließlich der nackten, schwarzen Pygmäen.«
Lydia fühlte sich erröten und blickte fort. Warum mußte er so etwas sagen? Sie sprach ihn nicht wieder an. Sie hatten genug geplaudert, um den Regeln der Etikette zu genügen, und offensichtlich war keiner von ihnen darauf erpicht, das Gespräch fortzusetzen.
Nach dem Essen spielte sie auf dem herrlichen großen Flügel des Gesandten, und dann brachte Kiril sie nach Hause. Sie ging sofort zu Bett und träumte von Felix.
Am nächsten Morgen nach dem Frühstück ließ ihr Vater sie durch einen Diener in sein Arbeitszimmer rufen.
Der Graf war ein kleiner, hagerer und mürrischer Mann von fünfundfünfzig Jahren. Lydia war das jüngste seiner vier Kinder – die anderen, eine Schwester und zwei Brüder, waren alle verheiratet. Ihre Mutter lebte noch, war aber ständig krank. Der Graf sah nur wenig von seiner Familie. Er schien den größten Teil seiner Zeit mit Büchern zu verbringen und hatte einen alten Freund, mit dem er manchmal Schach spielte. Lydia erinnerte sich vage an eine Zeit, als noch alles anders war, als sie in fröhlicher Familienrunde um den großen Tisch im Speisezimmer saßen, aber das war lange her. Heute konnte ein Ruf ins Arbeitszimmer nur eines bedeuten: Ärger.
Als Lydia eintrat, stand er vor dem Schreibtisch, die Hände auf dem Rücken verschränkt, das Gesicht vor Wut verzerrt. Lydias Zofe stand in der Nähe
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