Der Mann Aus St. Petersburg: Roman
Mama hatte sich wie üblich nach dem Mittagessen hingelegt. Es war niemand da, der sie zurückhielt.
Sie zog sich ein sehr einfaches Kleid an, dazu den unauffälligsten Mantel, und setzte einen unscheinbaren Hut auf. Dann ging sie leise die Treppe hinunter und trat aus dem Haus.
Felix ging im Park auf und ab, beobachtete ständig das Haus und zerbrach sich den Kopf.
Irgendwie mußte er herausfinden, wohin Waiden mit dem Auto gefahren war. Aber wie? Sollte er es noch einmal mit Lydia versuchen? Er konnte, wenn auch mit einigem Risiko, hinter dem Rücken des Polizisten ins Haus gelangen. Nur wie käme er dann wieder heraus? Würde Lydia nicht Alarm schlagen? Selbst wenn sie ihn gehen ließe, würde sie ihm jetzt wohl kaum noch das Geheimnis von Orlows Versteck verraten. Inzwischen wußte sie ja, warum er ihn finden wollte. Vielleicht konnte er sie verführen – aber wo und wann?
Es war unmöglich, Waidens Wagen mit dem Fahrrad zu folgen. Sollte er sich selbst ein Auto besorgen? Er konnte sich eines stehlen, aber wie sollte er es fahren? Er konnte Fahrunterricht nehmen, doch selbst dann würde Waidens Chauffeur merken, daß man ihm folgte. Sollte er sich in Waidens Wagen verstecken? Dazu müßte er in die Garage gelangen, den Kofferraum öffnen, mehrere Stunden darin zubringen – und dabei hoffen, daß man den Kofferraum vor der Fahrt nicht öffnete. Die Erfolgschancen waren zu gering, um ein solches Wagnis einzugehen.
Er dachte an den Chauffeur. Kann ich ihn bestechen? Ihn betrunken machen? Ihn entführen? Felix war dabei, all diese Möglichkeiten zu erwägen, als er das junge Mädchen aus dem Haus kommen sah.
Er fragte sich, um wen es sich handeln könne. Vielleicht eine Dienerin, denn die Familienmitglieder benutzten immer Wagen. Aber sie war aus dem Haupteingang gekommen, und das tat die Dienerschaft nie. Es konnte Lydias Tochter sein. Vielleicht wußte sie, wo Orlow war.
Felix beschloß, ihr zu folgen.
Sie ging in Richtung Trafalgar Square. Felix stellte sein Rad in die Büsche, schlich ihr nach und sah sie sich genauer an. Ihre Kleidung glich nicht der einer Dienerin. Er erinnerte sich, in der Nacht, als er Orlow zum erstenmal töten wollte, ein Mädchen in der Kutsche gesehen zu haben. Er hatte sie sich nicht genau angeschaut, weil seine ganze Aufmerksamkeit in jenem unheilvollen Augenblick auf Lydia konzentriert war. Während der vielen Tage, in denen er das Haus beobachtete, war manchmal auch ein junges Mädchen mit dem Wagen ausgefahren. Das muß sie sein, entschied Felix. Sie hat sich heimlich aus dem Haus geschlichen, während ihr Vater fort und ihre Mutter beschäftigt ist.
Als er ihr über den Trafalgar Square folgte, stellte er fest, daß sie ihm merkwürdig bekannt vorkam. Er wußte zwar, daß er ihr nie begegnet war, und doch hatte er das seltsame Gefühl, sie zu kennen, als er sie aufrecht und entschlossenen Schritts vor sich her gehen sah. Gelegentlich sah er ihr Profil, wenn sie eine Straße überquerte, und die Haltung ihres Kinns oder vielleicht etwas in ihrem Blick ließ ihn stutzig werden. Erinnerte sie ihn an die junge Lydia? Durchaus nicht, stellte er fest. Lydia hatte stets klein und schmächtig ausgesehen, und ihre Züge waren zart und fein. Dieses Mädchen hat ein kräftiges, kantiges Gesicht. Es erinnerte Felix an ein italienisches Gemälde, das er in einer Kunstgalerie in Genf gesehen hatte.
Nach einer Weile fiel ihm der Name des Malers ein: Modigliani. Er kam näher an sie heran, und einige Minuten später sah er ihr gesamtes Gesicht. Er war erstaunt und dachte: Sie ist eine Schönheit.
Wohin geht sie? Zu einem geheimen Stelldichein? Um etwas Verbotenes zu kaufen? Um etwas zu tun, was ihre Eltern mißbilligen, vielleicht ins Kino gehen oder in ein Varietetheater?
Daß sie sich mit einem jungen Mann treffen wollte, schien ihm am wahrscheinlichsten. Auch für seine eigenen Zwecke versprach er sich davon einiges. Er könnte herausfinden, wer der junge Mann war, und ihr androhen, das Geheimnis preiszugeben, falls sie ihm nicht sagte, wo Orlow sei. Sie würde es natürlich nicht bereitwillig tun, besonders falls man ihr erzählt hatte, daß ein Mörder Orlow verfolgte. Aber wenn man sie vor die Wahl stellte, entweder ihren Geliebten oder ihren russischen Vetter zu verlieren, würde sie – dessen war sich Felix gewiß – lieber auf den Vetter verzichten.
Er hörte Lärm aus der Ferne. Das junge Mädchen bog um die Ecke. Plötzlich waren sie in einer Straße voller
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