Der Mann Aus St. Petersburg: Roman
marschierender Frauen. Viele von ihnen trugen die Farben der Frauenrechtlerinnen: Grün, Weiß und Purpur. Es waren Tausende. Irgendwo ertönte Marschmusik. Viele Spruchbänder waren zu sehen.
Das Mädchen schloß sich der Demonstration an und begann zu marschieren.
In der Straße wimmelte es von Polizisten, die sich aber alle auf die marschierenden Frauen konzentrierten, so daß Felix sich auf dem Gehsteig hinter ihnen verbergen konnte. Er folgte den Demonstranten, ohne das Mädchen aus den Augen zu lassen. Er hatte ein bißchen Glück gebraucht, und das hatte er nun erhalten. Sie war eine heimliche Frauenrechtlerin!
Man konnte sie also leicht erpressen, doch gab es gewiß subtilere Mittel.
Ob so oder so, sagte sich Felix, auf jeden Fall kriege ich von ihr, was ich will.
*
Charlotte war begeistert. Der Marsch verlief ordentlich und diszipliniert. Die meisten Frauen waren gut angezogen und sahen durchaus ehrbar aus. Die Kapelle spielte einen munteren Two-Step. Es waren sogar ein paar Männer dabei, die ein Spruchband mit der Aufschrift trugen: »Bekämpft die Regierung, die den Frauen das Wahlrecht verweigert.« Charlotte fühlte sich nicht mehr wie ein Sonderling mit ketzerischen Ansichten. Denken und fühlen diese Tausende von Frauen nicht genau wie ich? fiel ihr ein. Während der letzten vierundzwanzig Stunden hatte sie manchmal überlegt, ob die Männer nicht doch recht hatten, wenn sie behaupteten, die Frauen seien schwach, dumm und unwissend, denn manchmal kam sie sich wirklich schwach und dumm vor, und unwissend war sie ganz bestimmt. Aber jetzt wußte sie: Wenn wir uns selbst erziehen, werden wir nicht mehr unwissend sein; wenn wir selbständig denken, werden wir nicht mehr dumm sein; und wenn wir gemeinsam kämpfen, werden wir nicht mehr schwach sein.
Die Kapelle spielte das Kirchenlied » Jerusalem «, und die Frauen sangen dazu. Charlotte stimmte begeistert mit ein:
»Ich geb’ den Kampf im Geist nicht auf, lass’ auch das
Schwert nicht aus der Hand.«
Es ist mir egal, ob man mich sieht, dachte sie trotzig -auch wenn es die Herzoginnen sind!
» Bis wir Jerusalem gebaut Im schönen grünen Engelland.«
Der Marsch führte über den Trafalgar Square und von dort zur Mall. Plötzlich waren noch viel mehr Polizisten da, die die Frauen aufmerksam beobachteten. Auf beiden Seiten der Straße hatten sich inzwischen auch zahlreiche Schaulustige eingefunden – vor allem Männer. Sie schrien und pfiffen höhnisch. Charlotte hörte einen von ihnen sagen: »Was euch fehlt, ist ein guter Männerschwanz!« und sie wurde puterrot.
Sie bemerkte, daß viele Frauen einen Stab mit einem an der Spitze befestigten silbernen Pfeil trugen, und sie erkundigte sich bei der Frau neben ihr, was das bedeute.
»Einen solchen Pfeil trägt man auf dem Gefängniskittel«, antwortete die Frau. »Alle, die das tragen, sind im Gefängnis gewesen.«
»Im Gefängnis!« Charlotte war entsetzt. Sie hatte gewußt, daß einige Frauenrechtlerinnen im Gefängnis gewesen waren, doch als sie sich jetzt umschaute, sah sie Hunderte dieser Pfeile. Zum erstenmal wurde sie sich bewußt, daß sie heute vielleicht verhaftet werden könnte, und bei diesem Gedanken fühlte sie sich schwach. Ich werde nicht weitergehen, beschloß sie. Ich brauche nur durch den Park zu gehen, dann bin ich zu Hause. Gefängnis! Das würde ich nicht überleben! Sie blickte zurück. Dann aber sagte sie sich: Ich habe nichts Unrechtes getan! Warum sollte ich Angst haben, ins Gefängnis zu kommen? Warum sollte ich mich nicht mit all diesen Frauen an den König wenden? Wenn wir das nicht tun, werden die Frauen immer schwach, dumm und unwissend bleiben. Die Kapelle spielte wieder, und sie reckte den Kopf hoch und marschierte im Gleichschritt.
Die Fassade des Buckingham Palasts erhob sich am Ende der Mall. Eine Reihe von Polizisten, meist zu Pferde, hatte sich vor dem Gebäude aufgestellt. Charlotte befand sich ziemlich weit vorn in der Marschkolonne, und sie überlegte, was die Anführerinnen zu tun beabsichtigten, wenn sie an das Gitter gelangt waren.
Sie erinnerte sich, wie sie eines Nachmittags aus dem Geschäft Derry & Toms gekommen war und einen Betrunkenen auf dem Gehsteig auf sich zutorkeln gesehen hatte. Ein Herr im Zylinder hatte den Betrunkenen mit seinem Spazierstock aus dem Weg gestoßen, und ein Lakai hatte Charlotte rasch in den am Bordstein wartenden Wagen geholfen.
Heute würde niemand sie beschützen, wenn es zu einer Rempelei käme.
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