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Der Mann Aus St. Petersburg: Roman

Der Mann Aus St. Petersburg: Roman

Titel: Der Mann Aus St. Petersburg: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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holen, sie wollte schreien, aber sie konnte es nicht.
    Sie war sicher, sterben zu müssen. Sie nahm kaum wahr, daß ein sehr großer Mann sich durch die Menge schob und auf sie zukam. Und dieser große Mann packte den Kerl im Tweedanzug am Rockaufschlag und versetzte ihm einen Faustschlag auf das Kinn. Der Schlag war so stark, daß der Bursche in die Luft zu fliegen schien; sein erstaunter Gesichtsausdruck war fast komisch. Endlich konnte Charlotte wieder atmen, und sie tat es ausgiebig. Der große Mann legte ihr fest den Arm um die Schulter und sagte ihr ins Ohr: »Hier entlang.« Jetzt wußte sie, daß jemand sie rettete, und das Gefühl, in den Händen eines so starken Beschützers zu sein, war eine solche Erleichterung, daß sie sich fast glücklich fühlte.
    Der große Mann schob sie durch das Gewühl. Ein Polizist schlug mit einem Gummiknüppel nach ihr. Charlottes Beschützer hob den Arm, um den Schlag abzuwehren, und stieß einen Schmerzensschrei aus, als der Knüppel auf seinem Knöchel landete. Er ließ Charlotte los. Es kam zu einem kurzen Handgemenge, dann lag der Polizist blutend am Boden, und der große Mann führte Charlotte wieder weiter.
    Plötzlich waren sie aus dem Getümmel heraus. Als Charlotte sich bewußt wurde, daß sie in Sicherheit war, begann sie zu weinen. Sie schluchzte leise, und die Tränen liefen ihr über die Wangen. Der Mann hielt sie zum Gehen an. »Wir müssen fort von hier«, sagte er. Er sprach mit einem ausländischen Akzent. Charlotte hatte keine Willenskraft mehr; sie ging, wohin er sie führte.
    Allmählich gewann sie wieder ihre Fassung. Sie waren in der Gegend der Victoria Station. Der Mann blieb vor einem Lyons Corner House stehen und fragte: »Möchten Sie eine Tasse Tee?« Sie nickte, und sie traten ein.
    Er führte sie zu einem Tisch, setzte sich ihr gegenüber. Jetzt sah sie ihn zum erstenmal richtig. Einen Augenblick lang hatte sie wieder Angst. Er hatte ein langes Gesicht mit einer gebogenen Nase. Das Haar war sehr kurz geschnitten, das Gesicht unrasiert. Irgend etwas erinnerte sie an ein Raubtier. Aber dann sah sie, daß seine Augen voller Mitleid waren.
    Sie räusperte sich und sagte: »Wie kann ich Ihnen danken?«
    Er ignorierte die Frage. »Möchten Sie etwas essen?«
    »Nein, danke, nur Tee.« Sie hatte seinen Akzent erkannt und fragte ihn auf russisch: »Woher kommen Sie?«
    Er schien erfreut, daß sie seine Sprache kannte. »Ich wurde in der Provinz Tambow geboren. Sie sprechen sehr gut Russisch.«
    »Meine Mutter ist Russin, und auch meine Gouvernante.«
    Eine Kellnerin kam, und er sagte: »Bitte zweimal Tee, Liebste.«
    Charlotte dachte: Er hat sein Englisch bei den Cockneys gelernt. Sie fuhr auf russisch fort: »Ich kenne nicht einmal Ihren Namen. Ich bin Charlotte Waiden.«
    »Felix Kschessinsky. Es war sehr tapfer von Ihnen, an diesem Marsch teilzunehmen.«
    Sie schüttelte den Kopf. »Es hat nichts mit Tapferkeit zu tun. Ich hatte keine Ahnung, daß es so sein würde.« Sie überlegte: Wer ist dieser Mann? Wo kommt er her? Er sieht faszinierend aus. Aber er ist mißtrauisch. Ich möchte mehr über ihn erfahren.
    Er fragte: »Was hatten Sie denn erwartet?«
    »Von dem Marsch? Ich weiß nicht … Warum finden diese Männer ein solches Vergnügen daran, Frauen anzugreifen?«
    »Das ist eine interessante Frage.« Er wurde plötzlich lebhaft, und Charlotte bemerkte, daß er ein anziehendes, ausdrucksvolles Gesicht hatte. »Schauen Sie, wir stellen die Frauen auf einen Altar und bilden uns ein, sie seien seelisch rein und körperlich hilflos. Deshalb müssen sich die Männer – zumindest in der gesitteten Gesellschaft -einreden, daß sie einer Frau nie feindlich gesinnt sein könnten und daß es ihnen nicht nach ihren Körpern gelüste. Und jetzt kommen da einige Frauen daher, die ganz offensichtlich nicht hilflos sind und kein Bedürfnis verspüren, angebetet zu werden. Und hinzu kommt noch, daß sie das Gesetz brechen. Sie verleugnen die Mythen, an die die Männer glauben möchten. Außerdem können sie straflos angegriffen werden. Die Männer fühlen sich betrogen und lassen all ihrer Gier und Wut freien Lauf -all jenen Trieben, von denen sie nach außen hin stets vorgegeben haben, sie seien ihnen völlig unbekannt. Dadurch lösen sich innere Spannungen, und das gefällt ihnen.«
    Charlotte blickte ihn verblüfft an. War das nicht phantastisch: eine volle und erschöpfende Erklärung, einfach so dahergesagt? Dieser Mann gefällt mir, stellte sie fest. Sie

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