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Der Mann Aus St. Petersburg: Roman

Der Mann Aus St. Petersburg: Roman

Titel: Der Mann Aus St. Petersburg: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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sie vor dem Tor des Palastes.
    Das letzte Mal, als ich hier war, hatte ich eine Einladung, dachte Charlotte.
    Die Spitze der Marschkolonne war bis zur Phalanx der Polizisten gelangt. Einen Augenblick stockte alles. Die Leute von hinten drängten nach vorn. Plötzlich sah Charlotte Mrs. Pankhurst. Sie trug eine Jacke und einen Rock aus purpurrotem Samt, eine weiße Bluse mit hohem Kragen und eine grüne Weste. Dazu einen purpurroten Hut mit einer weißen Straußenfeder und einem Schleier. Sie war aus der marschierenden Menge herausgetreten und hatte es irgendwie erreicht, unbemerkt an das Gittertor des Palasthofes zu gelangen. Und nun marschierte diese tapfere kleine Frau erhobenen Hauptes geradewegs auf den Palast des Königs zu. Ein Polizeiinspektor in Zivil hielt sie an. Es war ein bulliger Mann, der sie fast um Haupteslänge überragte. Es gab einen kurzen Wortwechsel. Mrs. Pankhurst wollte weitergehen. Der Inspektor versperrte ihr den Weg. Sie versuchte, sich an ihm vorbeizudrängen. Da packte der Polizist Mrs. Pankhurst, zum Entsetzen Charlottes, mit beiden Händen, riß ihr die Beine vom Boden und trug sie fort.
    Charlotte war empört – wie auch alle anderen Frauen, die es gesehen hatten. Die Demonstranten drängten sich wild den Polizisten entgegen. Zwei Frauen waren durchgebrochen und rannten, von Polizisten gejagt, auf den Palast zu. Die Pferde bäumten sich auf, und ihre eisenbeschlagenen Hufe dröhnten bedrohlich auf dem Pflaster. Die Linie begann aufzubrechen. Mehrere Frauen kämpften mit den Polizisten und wurden zu Boden geworfen. Charlotte hatte entsetzliche Angst, den brutalen Männern in die Hände zu geraten. Einige der männlichen Zuschauer eilten der Polizei zu Hilfe, und jetzt artete das Gedränge in eine Schlägerei aus. Eine Frau mittleren Alters in Charlottes Nähe wurde bei den Schenkeln gepackt. »Lassen Sie mich los!« rief sie entrüstet. Der Polizist erwiderte: »Heute kann ich Sie anfassen, wie und wo es mir paßt, meine Beste!«
    Eine Gruppe von Männern mit Strohhüten schob sich in die Menge, stieß und schlug die Frauen, und Charlotte schrie. Plötzlich gingen mehrere Frauenrechtlerinnen mit Knüppeln zum Gegenangriff über, und die Strohhüte flogen in alle Richtungen. Es gab keine Zuschauer mehr, denn jeder war in den Kampf verwickelt. Charlotte wollte wegrennen, aber überall um sie herum sah sie Gewalttätigkeit. Ein Kerl mit rundem steifem Hut faßte eine junge Frau von hinten an die Brüste und griff ihr mit der anderen zwischen die Schenkel. Charlotte hörte ihn sagen: »Das hast du dir doch schon lange gewünscht, nicht wahr?« Die Bestialität der Szene erfüllte Charlotte mit Entsetzen. Es war wie auf einem jener mittelalterlichen Gemälde, auf denen Menschen in den furchtbaren Qualen des Fegefeuers dargestellt wurden. Aber hier war dies Wirklichkeit, und sie war mitten drin. Sie wurde von hinten gestoßen, stürzte, schlug sich Hände und Knie wund. Jemand trat auf ihre Hand. Sie versuchte sich aufzurichten und wurde wieder niedergeschlagen. Wenn sie jetzt unter ein Pferd geriet, konnte es um sie geschehen sein. Verzweifelt klammerte sie sich an den Mantel einer Frau, um wieder auf die Beine zu kommen. Einige Frauen versuchten, den Männern Pfeffer in die Augen zu werfen, verfehlten aber meist ihr Ziel und setzten ebenso viele Frauen wie Männer außer Gefecht. Der Kampf wurde immer bösartiger. Charlotte sah eine Frau mit blutüberströmter Nase am Boden. Sie wollte ihr helfen, aber sie konnte sich selbst kaum bewegen, hatte schon alle Mühe, sich aufrecht zu halten. Allmählich verwandelte sich ihre Angst in Wut. Die Männer, sowohl die Polizisten wie die Zivilisten, schlugen und traten mit sichtlichem Vergnügen nach den Frauen. Warum grinsen die nur so? dachte Charlotte in hysterischem Schrecken. Und schon spürte sie eine schwere Hand, die nach ihrer Brust griff, sie drückte und kniff. Sie drehte sich um, wollte den Flegel abwehren. Es war ein Mann Mitte Zwanzig in einem gutgeschnittenen Tweedanzug. Jetzt griff er mit beiden Händen nach ihren Brüsten, und grub die Finger tief in ihr Fleisch. Niemand hatte sie je dort berührt. Sie kämpfte mit ihm, sah sein vor Haß und Begierde verzerrtes Gesicht. Er brüllte: »Das brauchst du doch, nicht wahr?« Dann schlug er ihr mit der Faust in den Magen. Der Schmerz war schlimm genug, aber was sie in Panik versetzte, war, daß sie nicht mehr atmen konnte. Sie stand nach vorn gebeugt, mit offenem Mund. Sie wollte Luft

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