Der Mann Aus St. Petersburg: Roman
würde es an Ihrer Stelle mit nach oben nehmen, denn anderswo wird es bestimmt geklaut.«
Mit dem Fahrrad im Zimmer hatte er gerade Platz genug, um von der Tür ans Bett zu gelangen.
»Ich nehme das Zimmer«, sagte Felix.
»Das macht zwölf Shilling.«
»Aber Sie haben doch drei Shilling die Woche gesagt.«
»Vier Wochen im voraus.«
Felix bezahlte. Nach dem Kauf der Brille und dem Kleidertausch blieben ihm jetzt noch ein Pfund und neunzehn Shilling.
Der Hauswart sagte: »Falls Sie neu anstreichen wollen, kann ich Ihnen Farbe zum halben Preis besorgen.« »Das sag’ ich Ihnen dann noch«, erwiderte Felix. Das Zimmer war schmutzig, aber das war die geringste seiner Sorgen.
Morgen mußte er wieder Orlow suchen.
»Stephen! Gott sei Dank bist du unversehrt!« sagte Lydia.
Er legte seinen Arm um ihre Taille. »Natürlich bin ich unversehrt.«
»Was ist passiert?«
»Wir haben leider unseren Mann nicht erwischt.«
Lydia wurde fast ohnmächtig vor Erleichterung. Als Stephen gesagt hatte: »Ich werde mir den Mann schnappen«, war sie doppelt entsetzt gewesen. Einmal, weil Felix Stephen umbringen konnte, und zum anderen, weil sie fürchtete, Felix zum zweitenmal ins Gefängnis zu bringen. Sie wußte, was er beim erstenmal durchgemacht hatte, und der Gedanke daran ließ sie schaudern.
»Ich glaube, du kennst Basil Thomson bereits«, sagte Stephen, »und dieser Herr hier ist Mr. Taylor, der Zeichner der Polizei. Wir wollen ihm jetzt alle helfen, das Gesicht des Mörders zu skizzieren.«
Lydia wurde blaß. Jetzt mußte sie Stunden damit verbringen, in Gegenwart ihres Mannes ihren Liebhaber zu beschreiben. Wann wird das ein Ende nehmen? fragte sie sich.
Stephen sagte: »Wo ist übrigens Charlotte?«
»Beim Einkaufen«, erwiderte Lydia.
»Gut. Ich will nicht, daß sie etwas von dieser Angelegenheit erfährt. Und vor allem soll sie nicht wissen, wo Alex jetzt wohnt.«
»Sag es auch mir nicht«, bat Lydia. »Ich möchte es lieber nicht wissen. Auf diese Weise kann ich nicht noch einmal den gleichen Fehler machen.«
Sie setzten sich, und der Maler nahm seinen Skizzierblock aus der Tasche.
Wieder und wieder zeichnete er das Gesicht. Lydia hätte es in fünf Minuten zeichnen können. Zuerst versuchte sie, den Zeichner zu verwirren, sagte »nicht ganz«, wenn etwas genau stimmte, und »genau so«, wenn etwas völlig falsch war. Aber Stephen und Thomson hatten Felix immerhin so klar gesehen, daß sie sie berichtigen konnten. Schließlich bekam sie Angst, die beiden könnten Verdacht schöpfen, und widersprach nicht mehr. Aber sie war sich schmerzlich bewußt, daß sie mithalf, Felix ins Gefängnis zu bringen. Schließlich wurde das Bild dem von Lydia geliebten Gesicht sehr ähnlich.
Danach wurde sie so nervös, daß sie eine Dosis Laudanum nahm und zu Bett ging. Sie träumte, sie sei unterwegs nach St. Petersburg, um sich mit Felix zu treffen. Um das Schiff zu erreichen, fuhr sie in einer Kutsche mit zwei Herzoginnen, die sie im wirklichen Leben aus der guten Gesellschaft ausgestoßen hätten, hätten sie von ihrer Vergangenheit gewußt. Sie schlugen jedoch einen falschen Weg ein und fuhren nach Bournemouth anstatt nach Southampton. Dort machten sie eine Ruhepause, obgleich es bereits fünf Uhr war und das Schiff um sieben abfahren sollte. Die Herzoginnen erzählten Lydia, sie schliefen nachts miteinander und streichelten sich dabei auf perverse Art. Ihr erschien das durchaus nicht überraschend, obgleich die beiden Damen schon sehr alt waren. Lydia sagte immer wieder: »Wir müssen jetzt aufbrechen«, aber man nahm keine Notiz von ihr. Dann erschien ein Mann mit einem Brief an Lydia, der mit »dein anarchistischer Geliebter« unterschrieben war. Lydia sagte zum Boten: »Sagen Sie meinem anarchistischen Geliebten, daß ich mich bemühe, das Sieben-Uhr-Schiff zu erreichen.« Jetzt war die Katze aus dem Sack. Die Herzoginnen tauschten bedeutsame Blicke aus. Um zwanzig Minuten vor sieben war Lydia immer noch in Bournemouth und stellte fest, daß sie noch nicht einmal ihre Koffer gepackt hatte. Sie rannte herum, warf alle möglichen Dinge in die Koffer, konnte aber nichts finden, was sie wirklich mitnehmen wollte, und die Sekunden tickten vorüber, und es war bereits viel zu spät, aber irgendwie wurde ihr Koffer einfach nicht voll, und sie geriet in Panik und stieg ohne Gepäck in den Wagen, den sie selbst kutschierte, und dann verirrte sie sich auf dem Strand vor Bournemouth, konnte nicht wegkommen und wachte
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