Der Mann Aus St. Petersburg: Roman
gelacht.
Sie lächelte breit; Fältchen bildeten sich in den Augenwinkeln, sie warf den Kopf zurück, streckte das Kinn vor, hielt die Hände hoch, die Handflächen in einer fast defensiven Geste nach vorne gekehrt, und es war ein tiefes, kehliges Lachen.
Felix fühlte sich um fünfundzwanzig Jahre zurückversetzt. Er sah eine dreizimmerige Hütte, an eine Holzkirche gelehnt, und in der Hütte saßen sich ein Junge und ein Mädchen an einem rohen Holztisch gegenüber. Auf dem Feuer kochte Kohl mit einem kleinen Stück Speck und viel Wasser in einem Eisentopf. Draußen war es fast dunkel, und bald würde der Vater zum Abendessen heimkehren. Der fünfzehnjährige Felix hatte gerade seiner achtzehnjährigen Schwester Natascha den Witz von dem Reisenden und der Bauerntochter erzählt. Sie warf den Kopf zurück und lachte.
Felix starrte Charlotte an. Sie sah genau wie Natascha aus. Er fragte: »Wie alt sind Sie?« »Achtzehn.«
Und jetzt kam Felix ein Gedanke, der so bestürzend war, daß ihm der Atem stockte.
Er schluckte und fragte weiter: »Wann haben sie Geburtstag?«
»Am zweiten Januar.«
Er erstarrte. Sie war genau sieben Monate nach Lydias Heirat mit Waiden geboren, achteinhalb Monate nachdem Felix zum letztenmal mit Lydia geschlafen hatte. Und sie sah aus wie seine Schwester Natascha. Jetzt wußte Felix die Wahrheit. Charlotte war seine Tochter.
9
W as haben Sie?« fragte Charlotte.
»N … nichts, gar nichts …«
»Sie sehen aus, als hätten Sie ein Gespenst gesehen.«
»Sie haben mich an jemanden erinnert. Erzählen Sie mir etwas über sich. Erzählen Sie mir alles, ich bitte Sie.«
Sie sah ihn stirnrunzelnd an. Er schien plötzlich heiser geworden zu sein, und sie sagte: »Sie haben sich erkältet.«
»Ich erkälte mich nie. Was ist Ihre früheste Erinnerung?«
Sie dachte einen Augenblick nach. »Ich bin in einem Landhaus namens Waiden Hall in Norfolk aufgewachsen. Es ist ein herrliches graues Steinhaus mit einem sehr schönen Garten. Im Sommer saßen wir draußen beim Tee, unter dem Kastanienbaum. Ich muß etwa vier Jahre alt gewesen sein, als ich zum erstenmal mit Mama und Papa beim Tee sitzen durfte. Es war sehr langweilig. Auf dem Rasen gab es nichts zu entdecken. Am liebsten ging ich hinter das Haus in die Ställe. Eines Tages sattelte man einen Esel und ließ mich darauf reiten. Ich hatte natürlich schon Leute reiten gesehen und bildete mir ein, ich könne es auch. Sie sagten mir, ich solle stillsitzen, denn sonst würde ich herunterfallen, aber ich glaubte ihnen nicht. Zuerst nahm jemand die Zügel und führte mich auf und ab. Dann durfte ich selbst die Zügel nehmen. Es schien mir alles so leicht, daß ich dem Tier einen Tritt gab. Ich hatte zuvor schon gesehen, wie Reiter ihre Pferde zum Traben bringen. Und dann lag ich auf einmal am Boden und weinte. Ich konnte es einfach nicht glauben, daß ich wirklich gefallen war.« Sie lachte.
»Es klingt wie eine glückliche Kindheit«, sagte Felix.
»Das würden Sie nicht sagen, wenn Sie meine Gouvernante gekannt hätten. Sie heißt Marya und ist ein russischer Drache. ›Kleine junge Damen haben stets saubere Händec, sagte sie immer. Sie ist auch heute noch bei uns – inzwischen als Anstandsdame.«
»Immerhin hatten Sie gutes Essen, gute Kleidung, mußten nie frieren, und wenn Sie krank waren, war immer ein Arzt da.«
»Genügt das, um glücklich zu sein?«
»Ich hätte mich damit zufriedengegeben. Welches ist Ihre schönste Erinnerung?«
»Als Papa mir mein eigenes Pony schenkte«, erwiderte sie ohne zu zögern. »Ich hatte es mir so sehr gewünscht, und es war wie ein Traum, der Wirklichkeit wurde. Diesen Tag werde ich nie vergessen.«
»Was ist das für ein Mensch?«
»Wer?«
Felix räusperte sich. »Lord Waiden.«
»Papa? Nun . « Das war eine gute Frage, fand Charlotte. Für einen Fremden war Felix bemerkenswert interessiert an ihr. Aber ihr Interesse an ihm war sogar noch stärker. Hinter seinen Fragen schien sich eine tiefe Melancholie zu verbergen, die noch vor ein paar Minuten gar nicht dagewesen war. Vielleicht hatte er eine unglückliche Kindheit gehabt und fand die ihre deshalb so viel schöner. »Ich glaube, Papa ist im Grunde ein sehr guter Mensch .«
»Aber?«
»Er behandelt mich immer wie ein Kind. Ich weiß, daß ich furchtbar naiv bin. Aber wenn ich nichts lerne, werde ich immer so bleiben. Er erklärt mir nichts in der Weise … wie Sie es tun. Es bringt ihn immer in große Verlegenheit, wenn . nun ja, wenn
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