Der Mann Aus St. Petersburg: Roman
fragte: »Was sind sie von Beruf?«
Er war wieder auf der Hut. »Arbeitsloser Philosoph.«
Der Tee kam. Er war stark und sehr süß, und Charlotte erholte sich etwas. Dieser seltsame Russe interessierte sie, und sie wollte mehr über ihn wissen. Sie sagte: »Sie scheinen der Ansicht zu sein, daß die gegenwärtige Stellung der Frau in der Gesellschaft für die Männer ebensosehr von Nachteil ist wie für die Frauen.«
»Davon bin ich überzeugt.«
»Warum?«
Er zögerte. »Männer und Frauen sind glücklich, wenn sie lieben.« Ein Schatten legte sich kurz auf sein Gesicht und verschwand wieder. »Die Beziehung in der Liebe ist nicht die gleiche wie die der Anbetung. Einen Gott betet man an. Lieben kann man nur Menschen. Wenn wir eine Frau anbeten, können wir sie nicht lieben. Denn wenn wir entdecken, daß sie kein Gott ist, hassen wir sie. Das ist traurig.«
»Daran hatte ich noch nie gedacht«, sagte Charlotte verwundert.
»In der Religion gibt es gute und böse Götter. Den lieben Gott und den Teufel. Und so haben wir auch gute und böse Frauen, und böse Frauen – also zum Beispiel Frauenrechtlerinnen und Prostituierte – sind sozusagen Freiwild.«
»Was sind Prostituierte?«
Er blickte sie überrascht an. »Frauen, die bereit sind, für Geld zu …« Er benutzte ein russisches Wort, das Charlotte nicht kannte.
»Können Sie mir das übersetzen?«
»Vögeln«, sagte er auf englisch.
Charlotte errötete und wandte den Blick ab.
»Ist das ein unanständiges Wort?« fragte er. »Es tut mir leid, aber ich kenne kein anderes.«:
Charlotte nahm all ihren Mut zusammen und sagte mit leiser Stimme: »Geschlechtsverkehr.«
Er sprach wieder russisch. »Ich glaube, man hat auch Sie auf einen Altar gestellt.«
»Sie können sich nicht vorstellen, wie schrecklich das ist«, rief sie empört. »So unwissend zu sein! Verkaufen sich Frauen wirklich auf diese Weise?«
»O ja. Ehrbare Frauen müssen so tun, als ekelten sie sich vor dem Geschlechtsverkehr, und das verdirbt manchmal den Männern die Freude. Also gehen sie zu Prostituierten.
Die Prostituierten tun wiederum so, als gefalle es ihnen sehr, aber da sie es so oft und mit so vielen verschiedenen Männern tun, macht es ihnen in Wirklichkeit gar keinen Spaß mehr. So gibt sich schließlich jeder einer Täuschung hin.«
Das sind gerade die Dinge, die ich wissen muß, dachte Charlotte. Am liebsten hätte sie ihn mit nach Hause genommen, ihn in ihrem Zimmer an die Kette gelegt, und ihn Tag und Nacht ihre Fragen beantworten lassen. Sie sagte:
»Wie ist es dazu gekommen – daß wir alle uns Täuschungen hingeben?«
»Darauf die Antwort zu finden, würde ein ganzes Leben beanspruchen. Aber ich bin sicher, daß es mit Macht zu tun hat. Die Männer haben Macht über die Frauen, und die Reichen haben Macht über die Armen. Es gehörte viel Phantasie dazu, dieses System zu legitimieren -Phantasien und Wunschvorstellungen über Monarchie, Kapitalismus, Herkunft und Sex. Diese Phantasien machen uns unglücklich, aber ohne sie würde jemand seine Macht verlieren. Und die Männer wollen ihre Macht nicht aufgeben, selbst wenn es sie unglücklich macht.«
»Aber was kann dagegen getan werden?«
»Eine berühmte Frage. Männern, die die Macht nicht aufgeben wollen, muß die Macht genommen werden. Eine Machtübertragung von einer Fraktion zur anderen innerhalb der gleichen Klasse nennt man einen Coup, und der ändert nichts. Eine Machtübertragung von einer Klasse zur anderen nennt man eine Revolution, und die bringt eine Veränderung.« Er zögerte. »Allerdings sind die Veränderungen nicht notwendigerweise die, die die Revolutionäre herbeizuführen suchen.« Er fuhr fort: »Revolutionen geschehen nur, wenn die Menschen sich in Massen gegen ihre Unterdrücker erheben – so wie die Frauenrechtlerinnen es zu tun scheinen. Revolutionen sind immer gewaltsam, denn die Menschen sind immer zum Töten bereit, um ihre Macht zu behalten, aber sie sind auch bereit, ihr Leben um der Freiheit willen zu opfern.«
»Sind Sie ein Revolutionär?«
Er antwortete auf englisch: »Dreimal dürfen Sie raten.«
Charlotte lachte. Und dieses Lachen machte ihm plötzlich alles klar. Während Felix gesprochen hatte, war er ständig damit beschäftigt gewesen, sie zu beobachten, ihre Reaktionen abzuschätzen. Er fühlte sich zu ihr hingezogen, und die Zuneigung, die er verspürte, kam ihm nicht unbekannt vor. Er dachte: Ich wollte sie behexen, und nun behext sie mich.
Und dann hatte sie
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