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Der Mann, der den Regen träumt

Der Mann, der den Regen träumt

Titel: Der Mann, der den Regen träumt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Al Shaw
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Erscheinungsbild vermuten ließ, dass er in Insektenjahren gerechnet etwa dasselbe Alter erreicht hatte wie Abe in Menschenjahren. Unsicher flatterte er an dem Rankgitter von Blüte zu Blüte. Nach einer Weile ließ er sich auf ihrem Tisch nieder und seine Flügel hingen wie nasser Stoff an seinem Körper. Elsa löffelte vorsichtig einen Tropfen ihres Getränks neben ihn auf die Tischplatte. Der Schmetterling kroch darauf zu und entrollte seinen zittrigen Rüssel. Der Geschmack der Flüssigkeit schien ihm zuzusagen, denn anschließend hob er wie verjüngt wieder ab und gaukelte schlingernd davon.
    Elsa lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und genoss selbst einen Schluck von ihrem süßen Honiggetränk. Dann sah sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung und wandte den Kopf.
    Abe Cosser war zum Leben erwacht. Plötzlich schien er voller Energie, wie diese nervigen Straßenkünstler in den U-Bahn-Stationen, die so taten, als wären sie Statuen, und sich nur regten, wenn man ihnen eine Münze hinwarf. Er hob die Hand und lupfte seinen Regenhut. Einen Moment lang dachte Elsa, er meinte sie, dann aber hörte sie hinter sich schwere Schritte und warf einen Blick über die Schulter.
    Sie schnappte nach Luft, als sie Daniel Fossiter sah, und ballte dann wütend die Fäuste unter dem Tisch, weil sie sich so leicht einschüchtern ließ. Er wirkte riesig in seinem alten, zerknitterten Hemd, die Hose in die abgeschabten, genagelten Stiefel gesteckt.
    »Miss Beletti«, sagte er barsch und nickte dann Abe zu. »Und Mr Cosser. Wie immer ein Vergnügen.«
    Abe Cosser sprang auf. »Ganz meinerseits, Mr Fossiter. Aber ich wollte gerade gehen.« Er lüftete abermals seinen Hut und verließ eilig den Hof.
    Ganz ruhig, mahnte Elsa sich selbst. Doch es half nicht.
    Daniel deutete auf den zweiten Stuhl an ihrem Tisch. »Darf ich?«
    Sie zuckte mit den Schultern.
    Er setzte sich; er schien Mühe zu haben, seinen ausladenden Körper zwischen die Armlehnen des Stuhls zu quetschen und dann unter dem Tisch Platz für seine Beine zu finden. »Es gibt da eine gewisse Angelegenheit, über die ich gern mit Ihnen sprechen würde, Miss Beletti.«
    Sie schluckte. »Und welche?«
    Er legte die Fäuste auf den Tisch, saß stocksteif da – im Gegensatz zu Elsa, die nervös herumzappelte –, aber innerlich bebte er. Seit Tagen hatte er nun unablässig darüber nachgegrübelt, wie er am besten einschreiten könnte. Er hatte auf Knien darum gebetet, die richtigen Worte zu finden, bis der harte Steinboden in der Kirche den Schmerz in seinen Knochen unerträglich gemacht hatte und er aufgeben musste. Wenn er das hier falsch anpackte, wenn es ihm nicht gelang, sie davon zu überzeugen, sich von Finn fernzuhalten, dann wusste er nicht, wie er mit den Schuldgefühlen weiterleben sollte, die die unvermeidliche Katastrophe mit sich bringen würde.
    »Es geht«, begann er mit bebender Stimme, »um Finn Munro.«
    Sofort fuhr Elsa auf. »Was gibt es da zu besprechen? Sie werden mir sagen, dass ich ihn nicht mehr besuchen soll, und ich werde Ihnen antworten, dass das unsere Sache ist.«
    Daniel Fossiter seufzte und blickte in die Tasse mit Brühe, die er sich am Verkaufsstand geholt hatte. Sie hielten hier freundlicherweise immer einen Krug mit saurer Bouillon für ihn bereit, obwohl niemand außer ihm je etwas davon bestellte. »Es ist komplizierter als Sie denken. Es ist gefährlich.«
    »Vielleicht ist es weniger kompliziert, als Sie denken.«
    Elsa fragte sich, ob er tatsächlich Macht über Finn hatte und ob er, wenn sie ihrem Ärger freien Lauf ließ und ihn sich zum Feind machte, ihnen wirklich das Leben schwer machen konnte.
    Unterdessen musterte Daniel sie aufmerksam und ahnte, dass in ihrem Kopf Hunderte von Sichtweisen nebeneinander existieren konnten, und er musste unwillkürlich an Betty denken, die ihm beigebracht hatte, dass jedes Menschenherz anders funktionierte. Er hatte gewusst, dass ein solcher Unterschied zwischen verschiedenen Spezies bestand – das Herz der Bergspitzmaus zum Beispiel schlug zehnmal so schnell wie das eines Menschen –, doch Bettys Herz hatte viel schneller geschlagen und er hatte sich neben ihr so träge wie ein Gletscher gefühlt.
    Er schlürfte seine Brühe. Ihre Wärme war wohltuend und verlieh ihm Mut. Er räusperte sich und spreizte die Finger auf der Tischplatte. Während er sprach, starrte er auf seine Nägel. Die Erde in den Bergen hatte einen dunklen Rand darunter hinterlassen. »Sie müssen mich für einen Tyrannen

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