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Der Mann, der den Regen träumt

Der Mann, der den Regen träumt

Titel: Der Mann, der den Regen träumt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Al Shaw
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»Seit wann geht es hier um Wünsche? Die Stadt bezahlt Sie, damit Sie Ihre Pflicht erfüllen! Wenn Ihre Wünsche sich nicht mit Ihren Aufgaben vereinbaren lassen, ist es vielleicht an der Zeit, dass jemand anderes an Ihre Stelle tritt. Wenn wir uns schon über solche Kleinigkeiten wie das hier streiten, werden wir Old Man Thunder niemals aufspüren.«
    Ein oder zwei der leicht zu beeindruckenden Leute in der Menge sogen angesichts dieser Respektlosigkeit gegenüber ihrem Bergjäger scharf die Luft ein. Mehrere Augenpaare richteten sich flehend auf Daniel und er begann zu ahnen, dass sie kein bisschen mehr Sympathie für Sidney empfanden als er selbst. Sie wollten, dass der Bann, unter dem Daniel zu stehen schien, brach und er endlich das Messer gegen das Wasserpferd erhob.
    Er blickte auf die Klinge hinunter und prüfte sie mit der Seite seines Daumens. Sie war scharf genug, um einen Blutstropfen hervorquellen zu lassen, das musste man Sidney zugutehalten. Fest umklammerte er den Griff.
    »Und wer bitte sollte meinen Platz einnehmen, Sidney? Wer kennt die Berge so gut wie ich? Sie etwa? Sie würden doch über Ihren eigenen Schmerbauch stolpern und vom Merrow Wold stürzen. Wenn Sie glauben, dass Sie als Bergjäger nicht mehr zu tun hätten, als gemütlich hinter Ihrem Gartenzaun zu stehen und auf Ziegen zu schießen, dann irren Sie sich gewaltig.« Er schleuderte Sidney das Messer vor die Füße, das klirrend auf dem Pflaster landete. »Ich werde dieses Wasserpferd nicht töten. Abe, bringen Sie es dahin zurück, wo Sie es gefunden haben, und lassen Sie es dort frei.« Mit diesen Worten drehte Daniel sich um und ging. Er bemühte sich um eine würdevolle Haltung, obwohl er vor Freude über das, was er soeben getan hatte, am liebsten Luftsprünge gemacht hätte. Oder getanzt, so wie Betty und er es bei der Feier anlässlich Mr Nairns hundertstem Geburtstag getan hatten. Einen wilden, ausgelassenen Walzer, weil er sich soeben nicht nur Sidney Moses widersetzt hatte, sondern der ganzen Stadt, einschließlich seiner Ahnen.
    Plötzlich hörte er ein kurzes Wiehern und kurz darauf ein widerwärtiges Schmatzen und Reißen.
    Er drehte sich um und sah gerade noch, wie Sidney das Messer aus dem Hals des Wasserpferdes zog.
    Wenn sie sich getäuscht hätten und es ein ganz normales Pony gewesen wäre, hätten Sidney und die anderen die Hufe des Tiers zu spüren bekommen, während es wild gegen den Tod ankämpfte, doch es war ein Wasserpferd und sank bloß lautlos in die Knie. Aus der Wunde in seinem Hals quoll Wasser anstelle von Blut, spritzte auf die Pflastersteine und Sidneys gewienerte Schuhe.
    Das Tier sackte in sich zusammen und sein Rücken schien sich zu kräuseln. Es kippte auf die Seite, während immer mehr Wasser aus ihm herausströmte. Die Leute wichen ein paar Schritte zurück, als bis auf den letzten Tropfen alle Flüssigkeit aus dem Riss in seinem Hals blubberte. Seine Haut schrumpelte in sich zusammen und sank in die Pfütze, die sich unter ihm bildete. In der Luft lag ein Geruch nach Wasser und Sediment, denn unter der Haut des Pferds verbargen sich keine Knochen und Muskeln, wie man es vielleicht erwartet hätte, sondern Unmengen an schmutzigem Wasser, das nun wie aus einem zerschnittenen Trinkschlauch nach draußen sickerte.
    Sidney hatte Mühe, mit seinen zitternden Händen das Messer zu halten. Sein Hemd klebte ihm durchnässt am Körper und durch die nasse Baumwolle wurde sein rosa Bauch sichtbar. Ein paar der Leute hatten die Hände vor den Mund geschlagen, andere jedoch warfen Daniel finstere Blicke zu. Sally Nairn starrte ihn an wie einen Verräter. Abe Cosser blickte drein wie ein geprügelter Hund. Wieder andere musterten den Mann, der noch immer den Plastikgriff des Messers umklammerte, mit neu gewonnenem Respekt.
    »G … genau das«, krächzte Sidney, bevor er sich räusperte und noch einmal neu ansetzte. »Genau das werden wir mit Old Man Thunder machen.«
    Daniel starrte auf die leere Haut in der Pfütze. Die Leute begannen zu flüstern und irgendjemand sagte: »Hört, hört«, wenn auch nur zögernd. Daniel kam es so vor, als wäre er gerade aus einem wunderschönen Traum erwacht, nur um sich auf der Anklagebank eines Gerichtssaals wiederzufinden.
    »Aber wir sollten nichts überstürzen«, fuhr Sidney fort, der sich inzwischen genug gesammelt hatte, um einen befehlenden Zeigefinger zu erheben. »Mr Fossiter braucht ganz offensichtlich etwas Zeit für sich. Er braucht Urlaub. Sollte er sich

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