Der Mann, der den Regen träumt
unbehelligt und Elsa hatte sie an ihre Mutter geschickt, damit sie sie auf dem Dachboden verstaute. Ihre Mutter musste die Schallplatte in ihren Sachen gefunden und sich daran erinnert haben, wie viel ihrer Tochter dieses Album einmal bedeutet hatte. Elsa hatte nichts, um die Platte abzuspielen, und so hielt sie sie bloß in den Händen und starrte das Coverfoto an, auf dem Simone aus einiger Entfernung schräg von hinten im Scheinwerferlicht der Bühne zu sehen war, vertieft in ihr Klavierspiel. Elsa dachte an ihre Mutter, allein in ihrem Wohnzimmer in Norman.
Doch sie brauchte keinen Plattenspieler: Die Lieder stimmten sich wie von selbst in ihrem Kopf an, brachten Elsas Stimmbänder dazu, die Melodien zu summen, und ihre Zunge, die Texte zu flüstern. Sie dachte daran, wie sie als kleines Mädchen durch Pfützen gehüpft war und versucht hatte, die dunklen Klänge von Simones Version von »Fine and Mellow« nachzuahmen, indem sie durch ein Papprohr sang. Sie erinnerte sich, wie sie aufgeregt festgestellt hatte, dass das Klimpern des Klaviers wie Regentropfen klang und Simones Stimme wie sanft wispernder Wind.
Den Song hatte sie auch an dem Tag gehört, als ihr Dad aus dem Gefängnis entlassen worden war, im Auto, als sie voller Vorfreude zu ihm unterwegs gewesen war und sogar seinen alten Plastikregenmantel dabeigehabt hatte. Er hatte diesen wasserdichten Mantel geliebt, der so gelb war wie der eines Fischers, denn, wie ihr Dad immer gern betonte, »Fischer und Wetterbeobachter sind wie Verwandte. Sie verbringen ihre gesamte Zeit damit, in irgendwelches Wasser zu starren. In der Hoffnung, darin etwas zu sehen.« Sie hatte gehofft, dass der Mantel ihn ein wenig aufheitern würde. Bei ihren letzten paar Besuchen war er ein ziemliches Wrack gewesen und hatte über nichts anderes geredet als das Wetter. »Ein Blitz schlägt nicht ein«, hatte er bei jeder Gelegenheit erklärt. »Er ist eine geheime Verbindung zwischen der Erde und dem Gewitter. Erst wenn sie sich berühren, fängt er an zu brennen, heißer als die Oberfläche der Sonne.« Und sie hatte immer erwidert: »Ja. Ja, das hast du mir schon mal erzählt.«
Dann hatte er sie über die Uhrzeit seiner Entlassung angelogen, und als sie am Tor nach ihm gefragt hatte, war ihr mitgeteilt worden, dass er das Gefängnis schon vier Stunden zuvor verlassen hatte und längst auf dem Weg in die Prärie war. Elsa hatte seinen Regenmantel an ihre Brust gedrückt und fassungslos in ihrem Auto vor dem Gefängnistor gesessen, während im CD-Player dieses Album im Repeat-Modus lief.
Sie wischte sich abermals die Augen. Genau wie diese Songs, damals wie heute, die Luft mit ihrer Kraft erfüllten, wenn die Nadel ihre lange spiralförmige Reise bis ins Zentrum des Vinyls antrat, vermochten auch die Erinnerungen an ihren Vater noch immer so intensive Gefühle in ihr aufsteigen zu lassen, dass sie kaum atmen konnte. Sie warf einen Blick auf das Telefon in der Ecke ihres Zimmers und wünschte, es gäbe eine Nummer, die sie hätte wählen können, um am anderen Ende der Leitung seine Stimme zu hören. Sie wollte ihm von Finn erzählen und von dem, was sie in ihm gefunden hatte. Doch sie könnte unendlich viele Zahlenkombinationen in das Tastenfeld tippen und trotzdem würde keine einzige davon sie mit ihrem Vater verbinden.
Sie legte die Platte aufs Bett.
Als sie das zweite Päckchen auswickeln wollte, zitterten Elsas Finger so heftig, dass sie es wieder hinlegen musste. Einen Moment lang erwog sie, den Telefonhörer abzunehmen und die alte Nummer ihres Dads zu wählen. Sie könnte einfach so tun, als würde er abnehmen, und ihm alles erzählen, was in ihr vorging. Sie hätte so viel zu berichten, dass sie gar nicht wusste, wo sie anfangen sollte. Vielleicht würde sie als Erstes sagen, dass … Vielleicht würde sie …
Sie fächelte sich Luft zu, denn wieder war ihr das Blut ins Gesicht gestiegen und sie drohte ein weiteres Mal in Tränen auszubrechen.
Sie würde ihm sagen, dass er ein Mistkerl war. Er hätte da sein sollen an dem Tag, als sie – die Einzige, der er noch etwas bedeutete – am Gefängnis angekommen war, mit seinem geliebten gelben Regenmantel, Nina Simone im CD-Player und mit Geld, das sie gespart hatte, um ihm wieder auf die Beine zu helfen. Aber er war einfach abgehauen, hatte sich einen Tornado gesucht, der ihn umbringen würde, und alles unvollendet zurückgelassen.
Er hatte ihr das Gefühl gegeben, seine Stürme mehr zu lieben als seine eigene
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