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Der Mann, der den Regen träumt

Der Mann, der den Regen träumt

Titel: Der Mann, der den Regen träumt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Al Shaw
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Tochter.
    Elsa griff nach einem Taschentuch und schnäuzte sich die Nase. Dann, halb blind vor Tränen, sodass das Papier unter ihren Händen zerriss, öffnete sie das zweite Päckchen.
    Es war ein Drachen.
    Ein rautenförmiger Drachen aus Stoff so weiß wie Quarz. Sein Schweif, ein aufgewickeltes Knäuel in einer separaten Plastikhülle, war mit silbernen Schleifchen verziert. Als sie den Drachen aus der Verpackung zog, entrollte sich der Schweif mit der Eleganz eines Wasserfalls zu voller Länge. Elsa wurde die Brust eng und ihre Schultern krümmten sich. Sie griff nach dem Telefonhörer und diesmal tat sie nicht nur so, als würde sie wählen. Es klickte und knirschte, als sich über Kontinente hinweg die Verbindung aufbaute. Dann folgte der Rufton, der allein sie so sehr an ihre Mutter erinnerte.
    »Hallo? Wer ist denn da?« Ihre Mutter klang aufgebracht und erst in diesem Moment wurde Elsa bewusst, dass es in Amerika gerade tiefste Nacht war.
    Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie drückte sich den Hörer dicht an Ohr und Wange.
    »Wer ist denn da? Wissen Sie eigentlich, wie spät es ist?«
    »Mum …«
    »Elsa! Du meine Güte!«
    »Hallo, Mum.«
    »Elsa! «
    »Ähm, danke, Mum, für deine Geschenke.«
    Falls ihre Mutter ihr böse war, weil sie so lange nicht angerufen hatte oder weil sie ihre Geschenke erst jetzt ausgepackt hatte, dann war ihrer Stimme zumindest nichts anzuhören. »Hast du dich gefreut? Elsa, ich kann gar nicht glauben, dass du es bist! Hast du den Drachen schon steigen lassen?«
    »Nein, aber … das werde ich gleich heute machen. Mit jemandem, den ich hier kennengelernt habe.«
    »Das ist schön, Elsa. Falls er nichts taugt, ich habe die Quittung noch. Aber der Laden dürfte wohl zu weit weg für dich sein …«
    »Ja. Ja, das stimmt wahrscheinlich.«
    Schweigen – abgesehen vom Rauschen der mehreren Tausend überwundenen Land- und Wassermeilen –, aber Elsa hatte von Finn gelernt, dass ein Moment ungefüllten Schweigens sehr viel kostbarer sein konnte als ein paar hastige Worte.
    »Und die Schallplatte?«, fragte ihre Mutter. »Läuft sie noch?«
    »Ich habe hier keinen Plattenspieler, aber das macht nichts.«
    »Ach. Es war … Ich weiß, dass es eine merkwürdige Idee ist, dir etwas zu schenken, das dir schon gehört, aber, weißt du … Ach, Elsa, ich kann gar nicht glauben, dass du es wirklich bist.«
    Elsa blickte auf das Telefonkabel, das sie sich um die Finger gewickelt hatte. Die Platte hatte nicht ihr gehört, sondern ihrem Dad, und das würde auch für alle Zeiten so bleiben. Normalerweise brachten diese kleinen Unaufmerksamkeiten ihrer Mutter sie auf die Palme, aber diesmal nicht. »Es war eine tolle Idee, Mum. Ich meine, es war eine ziemliche Überraschung, weil die Platte ja schließlich … weil sie ja schließlich …«
    »Weil sie deinem Vater gehört hat?«
    »Ja.«
    Sie konnte den Atem ihrer Mutter hören. Sie fragte sich, ob sie, wenn sie sich nur genug anstrengte, das Ticken der Uhr an der Wand über dem Telefon ihrer Mutter hören würde, oder den Oklahoma-Wind in den Straßen von Norman.
    Ihre Mutter putzte sich die Nase. »Tut mir leid, Elsa, es ist nur so schön, deine Stimme zu hören. Ich habe die ganze Zeit überlegt, ob ich dir mal gesagt habe, was meine Lieblingstextstelle auf dem Album ist.«
    »Ich wusste gar nicht, dass du es überhaupt magst, Mum.«
    »Like a leaf clings to a tree, oh my darling cling to me … Don’t you know you’re life itself …« Sie räusperte sich. Elsa wusste, dass es ihrer Mutter schwerfiel, über ihre Gefühle zu sprechen, selbst wenn sie es, wie jetzt, in Anführungszeichen tat. »Dein Vater«, fuhr sie dann fort, »hat mir das Lied an dem Abend, als wir uns verlobt haben, vorgespielt. Nachdem wir vom Strand zurückgekommen sind, wo er mir den Heiratsantrag gemacht hat. Willst du wissen, was er danach zu mir gesagt hat?«
    Elsa biss sich auf die Lippe und nickte schweigend.
    Ihre Mutter wartete einen Moment ab und redete dann weiter. »Er sagte, Menschen seien wie der Wind. Manchmal laut, sagte er, und manchmal ein Flüstern, manchmal warm und manchmal erschreckend kalt. Aber trotzdem würden wir weiterwehen, immer weiter vorwärts, und keine Spuren zurücklassen.«
    »Mum.« Elsa schluckte krampfhaft. »Ich glaube, ich habe mich verliebt.«
    Ihre Mutter stieß ein aufgeregtes Quietschen aus. »Verliebt? Liebe? Ich hätte nie gedacht, dass ich dieses Wort mal aus deinem Mund hören würde.«
    »Tja, ich habe meine

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