Der Mann, der den Zügen nachsah
Groningen, gesucht wegen Mord an einem Fräulein Pamela Makinsen, begangen in der Nacht vom 23. zum 24. Dezember in Appartement Hotel Carlton Amsterdam. Stop, Haben Grund anzunehmen daß Popinga per Bahn nach Frankreich ist. Stop. Trägt graue Kleidung und grauen Hut. Stop. Blonde Haare, helle Haut, blaue Augen, mittelschlank, besondere Kennzeichen keine. Stop. Spricht fließend englisch, deutsch und französisch.
Ohne Pannen und ohne Übereilung setzte sich die Maschinerie in Bewegung, will sagen: das Signalement von Kees Popinga wurde alsbald per Funk, Telegraph und Telefon an alle Grenzstationen, alle Polizeiposten und alle mobilen Brigaden durchgegeben.
Auf jedem Polizeirevier von Paris entzifferte ein
Brigadier vom Band des Morsetelegraphen:… mittelschlank, besondere Merkmale keine…
Und während dieser ganzen Zeit schlief Kees Popinga in seinem Hotelzimmer einen Schlaf ohnegleichen. Um Mittag schlief er immer noch. Um ein Uhr klopfte die Putzfrau an den Glasverschlag des Büros und fragte:
»Ist Nummer 7 noch nicht frei?«
Man wußte es nicht mehr, und das Zimmermädchen ging nachsehen; es erblickte das friedliche Gesicht von Kees, der mit offenem Mund schlief, und nahe bei ihm auf dem Tisch ein Bündel Banknoten, die es aber nicht anzurühren wagte.
Es wurde vier Uhr und das Licht war schon eingeschaltet, als Jeanne Rozier die Tür des Büros aufstieß.
»Ist der Typ, mit dem ich gestern nacht gekommen bin, fortgegangen?«
»Ich glaube, er schläft immer noch.«
Jeanne Rozier, eine Zeitung in der Hand, lief die Treppen hinauf, öffnete die Tür und erblickte Popinga, der sich immer noch nicht rührte und dessen Gesicht im Schlaf etwas Kindliches hatte.
»Kees!« rief sie mit plötzlich verhaltener Stimme.
Das Wort drang im Schlaf an sein Ohr, mußte aber mehrmals wiederholt werden, ehe es sein Bewußtsein erreichte. Dann endlich hob Popinga die Lider, sah die Nachttischlampe an seinem Bett und Jeanne Rozier in Mantel und Hut.
»Sie sind immer noch da«, murmelte er ungerührt.
Schon wollte er sich auf die andere Seite drehen, um den Faden seiner Träume wieder aufzunehmen. Sie mußte ihn aufrütteln:
»Hast du nicht gehört, was ich gesagt habe?«
Er sah sie seelenruhig an, rieb sich die Augen, richtete sich ein wenig auf und sagte in einem Ton, dessen nahezu kindliche Unschuld dem Gesichtsausdruck entsprach, den er im Schlaf hatte:
»Was hast du denn gesagt?«
»Ich habe dich mit deinem Namen Kees gerufen… Kees Popinga!«
Sie betonte jede Silbe, ohne daß ihn das im geringsten aufregte.
»Begreifst du immer noch nicht?… Da! Lies!«
Sie warf eine Mittagszeitung aufs Bett und ging mehrmals erregt im Zimmer auf und ab.
Tänzerin in einem Hotel in Amsterdam ermordet Dank Ausweispapieren, die er in den Zimmern zurückgelassen hat, konnte der Mörder identifiziert werden.
Anscheinend handelt es sich um einen Verrückten oder einen Sadisten.
Jeanne Rozier war ungeduldig, wandte sich alle Augenblicke nach ihm um in Erwartung einer Reaktion. Er gab immer noch nichts von sich, sondern bat in ganz ungezwungenem Ton:
»Willst du so nett sein, mir mein Jackett zu reichen?«
Sie war so einfältig, die Taschen abzutasten, um sicher zu gehen, daß sie nicht eine Waffe enthielten, die er haben wollte. Aber er wollte eine Zigarre! Er zündete sie mit entnervender Umständlichkeit an; nachdem er dann sein Kopfkissen hervorgezogen und sich mit dem Rücken dagegengelehnt hatte, begann er den Artikel zu lesen, wobei er manchmal die Lippen bewegte.
… nach letzten Informationen hätte der vorgenannte Popinga seine Wohnung in Groningen unter Umständen verlassen, die die Frage nahelegen, ob er nicht noch ein weiteres Verbrechen auf sich geladen hat. Tatsache ist, daß sein Chef, Herr Julius de Coster, plötzlich verschwunden ist und…
»Das bist doch du?« fuhr Jeanne Rozier, deren Geduld zu Ende war, ihn an.
»Gewiß, das bin ich.«
»Und du hast sie erdrosselt, diese Frau?«
»Das lag nicht in meiner Absicht… Ich frage mich sogar, wie sie davon gestorben sein kann… Auch sonst ist vieles in diesem Artikel übertrieben und manches sogar einfach falsch…«
Darauf erhob er sich und machte sich an seine Toilette.
»Was tust du?«
»Ich ziehe mich an… Zeit zu frühstücken…«
»Es ist fünf Uhr!«
»Also gehe ich essen.«
»Und was willst du danach machen?«
»Das weiß ich noch nicht.«
»Hast du keine Angst, auf
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