Der Mann, der den Zügen nachsah
kurze Aufenthalte in Bars oder an hufeisenförmigen Theken, wo er auf menschliche Wesen traf, deren Leben für Augenblicke gleichsam zum Stillstand gekommen war. Leute, die mit verträumtem Gesichtsausdruck ihren Kaffee tranken. Andere, nach beendeter Mahlzeit an der Bar aufgestützt, hatten einen so leeren Blick, daß man sich fragte, in welchem Moment oder durch welche Magie sie sich plötzlich ihrer selbst wieder bewußt würden. Ein Mädchen mit einem Korb voller Veilchen erinnerte ihn an den Weihnachtsabend und wie Jeanne Rozier zweimal bei ihm in dem Tabakladen der Rue de Douai erschienen war.
Goin hatte vermutlich recht; es war Jeanne, die Louis dazu gebracht hatte, sich seiner anzunehmen. Aber warum? Weil er Eindruck auf sie gemacht hatte? Weil er sich ihr gegenüber nicht wie ein gewöhnlicher Kunde benommen hatte? Oder aber weil sie wußte, was er getan hatte, und dadurch neugierig auf ihn geworden war?
Den Gedanken an Mitleid lehnte Popinga ab. Nicht nur, weil er nicht bemitleidet werden wollte, sondern weil Jeanne Rozier nicht die Frau war, mit jemand Mitleid zu haben.
»Noch eine ganze Stunde!« stellte er mit Ungeduld fest.
Je näher der Augenblick rückte, um so mehr dachte er an sie und versuchte vorherzusehen, was geschehen würde. Von diesem Moment an, bis zu dem er nichts als Mineralwasser getrunken hatte, fing er an, sich Cognacs zu bestellen, die ihm das Blut zu Kopf steigen ließen.
Und als er sich um zwei Uhr dreißig in einem Café am Boulevard des Batignolles im Spiegel betrachtete, dachte er: »Sich vorzustellen, daß noch kein Mensch weiß, was da geschehen wird… Nicht mal ich selbst!… Nicht einmal Jeanne, die nur darauf wartet, nach Hause zu kommen!… Louis ist in Marseille. Goin und seine Schwester schlafen in ihrem Zimmer und glauben mich nebenan. Niemand weiß…«
Er ließ sich eine Zeitung bringen und mußte bis zur fünften Seite blättern, um ein paar Zeilen über sich zu finden. Sie ärgerten ihn um so mehr, als sie immer das Gleiche sagten:
Kommissar Lucas setzt seine Nachforschungen im Fall des Verbrechens von Amsterdam fort und glaubt, Popinga in Kürze verhaften zu können.
Wieder so einer, der sich für schlau hielt, dieser Kommissar Lucas, und der überhaupt nichts wußte! Vielleicht, es konnte ja sein, gab er das nur an die Zeitungen, um Kees zu beeindrucken!
Doch er würde gleich feststellen, ob der Kommissar so stark war, wie er sich darzustellen beliebte. Er ließ sich, wiederum von einem Polizisten, zur Rue Fromentin weisen, schritt sie dreimal ab, wobei er alle Schlupfwinkel durchforschte, und war sicher, daß kein einziger Polizist in der Nähe der Nummer 13 postiert war.
Also hatte kein Mensch vorhergesehen, daß er in dieser Nacht Jeanne Rozier einen Besuch abstatten würde! Also hatte Lucas nichts begriffen! Also war Popinga weiterhin der Stärkere!
Wie würde er dreinschauen, wenn heute nacht etwas passierte? Und was würden die Zeitungen schreiben, die brav seine beruhigenden Phrasen nachbeteten?
Schließlich, je aktiver er war, desto weniger Erfolgschancen hatten die anderen, denn zu jeder seiner Aktionen würden sich neue Hypothesen einstellen – Hypothesen, die gezwungenermaßen zueinander in Widerspruch standen und die am Ende nur Verwirrung stiften würden!
Was hinderte ihn denn zu handeln? Was hätte ihn denn vorhin im Zug gehindert, die beiden Frauen zu attackieren, die Notbremse zu ziehen und in aller Ruhe auszusteigen, während in den Gängen ein großes Gerenne anhob?
Das Picratt’s, wo er seine ersten Stunden in Paris verbracht hatte, fand er ganz leicht, und, die Schließung des Lokals abwartend, spazierte er umher. Im Grunde hatte er noch gar nichts gewußt, als er in Paris angekommen war. Er hatte keine Zeit zum Nachdenken gehabt. Und jetzt bedauerte er fast den Mann, der, an der Gare du Nord angekommen, schleunigst Champagner bestellen und einem Straßenmädchen Geschichten erzählen mußte!
Zwei Frauen kamen aus dem Nachtlokal, Animierdamen wie Jeanne, aber sie war nicht dabei.
Das nötigte ihn, mit Verdruß die Möglichkeit ins Auge zu fassen, daß sie in Begleitung eines Kunden käme und er folglich alles auf später, vielleicht auf morgen verschieben müßte.
Aber nein! Sie kam heraus! Sie trug ihren grauen PepitaMantel, ein Veilchensträußchen am Revers, und stakste mit ihren hohen Absätzen das Trottoir entlang.
Sie fröstelte. Sie ging schnell, strich an den
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