Der Mann, der den Zügen nachsah
einen Moment geriet er in Panik bei dem
vergeblichen Versuch, im Erdgeschoß die Tür zu öffnen. Da er sich in Paris nicht auskannte, wußte er nicht, wie das funktionierte, und er probierte ungeduldig, mit Angstschweiß auf der Stirn.
Einen Augenblick dachte er daran, bis zur obersten Etage hinaufzugehen und dort den Morgen abzuwarten, wenn andere Mieter das Haus verlassen würden. Aber zufällig läutete jemand, und die Tür öffnete sich. Er sah ein Pärchen hereinkommen, das sich verdutzt nach dieser schattenhaften Gestalt umwandte, die nach draußen entfloh.
Noch mehr Leute, die am nächsten Tag der Polizei etwas über ihn erzählen würden.
Montmartre war ruhig. Die Leuchtreklamen waren aus. Nur wenige Taxis fuhren noch und boten ihm ihre Dienste an.
Aber wozu ein Taxi nehmen, wenn er nicht wußte, wohin?
Etwas indessen quälte ihn, der Gedanke an Jeanne Rozier, die vielleicht länger brauchte, um wieder zu sich zu kommen, und die…
Was soll’s. Er hielt das nächste Taxi an und hatte Mühe, seine Wünsche zu erklären.
»Also! Sie fahren zur Rue Fromentin 13. Sie gehen in den dritten Stock hinauf zu Mademoiselle Rozier. Sie braucht ein Taxi, das sie auf schnellstem Weg zum Bahnhof fährt. Hier sind zwanzig Francs Vorauszahlung.«
Der Fahrer schien mißtrauisch.
»Sind Sie ganz sicher, daß diese Dame…?«
»Wenn ich Ihnen doch sage, daß sie auf ein Taxi wartet!«
Der Fahrer zuckte die Achseln und setzte seinen Wagen in Gang, während Popinga mit großen Schritten dem Zentrum der Stadt zustrebte. Was konnte es ihm schon ausmachen, ob die Nachforschungen etwas früher oder etwas später begannen, da er doch sicher war, allem zu entkommen.
Ja, er freute sich sogar darauf zu sehen, ob Jeanne Rozier der Polizei seine genaue Personenbeschreibung geben und ihr helfen würde. Irgend etwas, gegen alle Vernunft, sagte ihm, sie würde es nicht tun.
Er war müde. Er sehnte sich danach zu schlafen, zwölf
Stunden, vierundzwanzig Stunden, wie es ihm kürzlich schon einmal gegangen war.
Wenn er allein in ein Hotel ginge, würde er einen Zettel ausfüllen müssen, vielleicht würde man seinen Ausweis verlangen. Aber hatte Jeanne ihm nicht den Trick gezeigt?
Er ging mit großen Schritten, bis er schließlich ein Mädchen traf, das trotz der späten Stunde noch darauf aus war. Er machte ihr ein Zeichen und folgte ihr.
Dann, auf dem Zimmer, war er immerhin so vorsichtig, sein Geld unter das Kopfkissen zu schieben.
»Bist Ausländer?«
»Weiß nicht… Ich bin müde!… Da sind hundert Francs… Laß mich in Ruhe…«
Und sogleich, nachdem er eingeschlafen war, träumte er,
daß er wieder Kees Popinga wäre, daß Mama sich geräuschlos ankleidete, sich im Spiegel betrachtete, einen kleinen Pickel ausdrückte, während das Dienstmädchen unten in der Küche gewaltigen Lärm machte. Nur: das Dienstmädchen war Rose. Etwas später, als er hinunterging und sich ihr verstohlen von hinten näherte, sagte sie:
»Ich komme erst zurück, wenn Sie nicht mehr in der Küche sind!«
Und welche Stimme flüsterte ihm zu:
»Achtung! Die Büchse mit der Aufschrift ›Salz‹ enthält Zucker… Paßt schlecht in Ochsenschwanzsuppe…«
Er zermarterte sich das Hirn, um die Stimme wiederzuerkennen, und auf einmal kam die Erleuchtung: Es war die Stimme von Jeanne Rozier, und er war auf Strümpfen und ohne Kragen mitten in der Küche, während sein Haus voller Gäste war. Sie lachte und sagte spöttisch, als wäre sie liebevoll um ihn besorgt:
»Ziehen Sie sich an, schnell! Sehen Sie denn nicht, daß man Sie erkennt?«
7
Wie Kees Popinga seinen
ambulanten Hausstand einrichtet
und wie er es für seine Pflicht hält,
der französischen Polizei einen
Fingerzeig zu geben
Man geht von irgendeinem, manchmal lächerlichen, Detail aus und gelangt, ohne es zu wollen, zur Entdeckung großer Zusammenhänge.
Als er sich an jenem Morgen im Spiegel betrachtete – und das war etwas, das er seit je mit großem Ernst betrieb –, merkte Popinga, daß er sich seit seiner Abreise aus Holland nicht mehr rasiert hatte, was ihm, obwohl er keinen besonders üppigen oder dichten Haarwuchs hatte, ein nicht gerade vorteilhaftes Aussehen gab.
Er wandte sich zu dem Bett um, auf dessen Rand eine Frau, die er nicht kannte, dabei war, sich die Strümpfe anzuziehen.
»Wenn du fertig bist, gehst du mir einen Rasierapparat
kaufen, Rasierseife, einen Rasierpinsel und
Weitere Kostenlose Bücher